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Frankfurter Rundschau 15.11.2001

Der Störsender aus Katar 

Der starke Arm Amerikas reicht nicht weit genug, den arabischen
TV-Sender Al Dschasira an die Leine zu nehmen 

Von Andrea Nüsse (Amman) 

Die Berichterstattung des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira ist
der US-Regierung seit dem 11. September ein Dorn im Auge. Zu
Amerika-feindlich, lautet der Vorwurf. Von daher liegt der Verdacht
nahe, dass die Bombardierung des Al Dschasira-Büros in Kabul kein
Versehen war. Doch ob das Gebäude möglicherweise absichtlich von den USA
zerstört wurde darüber mag der Geschäftsführer des arabischen
Fernsehsenders, Mohammed Dschassim el Ali, nicht spekulieren. Er sagt
lediglich, dass auch den Amerikanern bekannt gewesen sei, wo sich das
Büro in Kabul genau befinde. Der Al Dschasira-Korrespondent Taysir Aluni
hat Kabul nach dpa-Angaben kurz vor dem Bombardement verlassen. "Ich
habe Warnungen erhalten, dass ich schleunigst die Stadt verlassen
sollte", soll Aluni demnach in einem Telefoninterview gesagt haben. Aber
nicht nur Aluni scheint auf der Flucht zu sein. Journalisten, die mit
den Kämpfern der Nordallianz in die afghanische Hauptstadt eingezogen
waren, berichten laut Agenturen von einer regelrechten Jagd auf
arabische Kollegen. Offenbar stehe für die Nordallianz jeder Araber in
Kabul im Verdacht, ein Anhänger Osama bin Ladens und der Taliban zu
sein.
 Nach dem Einmarsch der Nordallianz in Kabul zeigte sich, wie sehr Al
Dschasira das Bild stört, das US-amerikanische Sender vom Krieg
zeichnen. Während sie vor allem Bilder von jubelnden Menschen zeigten
und Männer, die sich den Bart rasieren, wiederholte der arabische Sender
immer wieder die Bilder von Leichen, die in den Gräben liegen, sowie von
Kämpfern der Nordallianz, die brutal auf unbewaffente Araber und
mutmaßliche Taliban-Anhänger losgehen.
 Die USA haben schon früh versucht, Druck auf Al Dschasira auszuüben.
Anfang Oktober forderte Außenminister Colin Powell im Gespräch mit dem
Emir von Katar, er möge den Sender ans Gängelband nehmen. Das wies der
Herrscher jedoch zurück. Der Ärger der Amerikaner wuchs, als der kleine
Sender die Videos Osama bin Ladens ausstrahlte. Außerdem schickte er
wochenlang Bilder von afghanischen Zivilisten um die Welt, die durch
amerikanische Bomben verletzt oder getötet wurden - denn Al Dschasira
hatte als einziger Fernsehsender einen ständigen Korrespondenten in
Kabul. 
 Bei CNN kommt die Linie der US-Regierung durch, die jeden Zweifel am
Krieg gegen Afghanistan vermeiden will. So hat CNN-Direktor Walter
Isaacson laut Washington Post die Anweisung gegeben, alle Bilder von
verletzten oder getöteten Zivilisten in Afghanistan mit der Angabe zu
versehen, dass "die Taliban die Terroristen beherbergen, die für den Tod
von 5000 Unschuldigen verantwortlich sind". Das ist wohl auch ein
Ergebnis des "Gesprächs" der Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten
Condoleezza Rice mit den Chefs der amerikanischen Fernsehanstalten. Im
Krieg findet einen Zensur eben doch statt. Dem Radiosender Voice of
America hatte das US-Außenministerium noch vor Beginn der Luftschläge
untersagt, ein Interview mit Taliban-Führer Mullah Omar auszustrahlen. 
 Doch der starke Arm Amerikas reichte nicht weit genug, um Al Dschasira
an die Leine zu nehmen. Also verlieh die US-Regierung ihrem Ärger in
Vorwürfen Ausdruck. Die Ausstrahlung der ungeschnittenen
Videobotschaften Osama bin Ladens biete dem mutmaßlichen Terroristen ein
Forum, um die Massen in der arabischen Welt gegen den Westen
aufzuhetzen, kritisiert die Bush-Administration. Die ersten Botschaften
bin Ladens unredigiert auszustrahlen, war zunächst relativ unumstritten.
Wochenlang hatte die Welt nur die Anschuldigungen aus Amerika gehört,
nun erstmals kam der Angeklagte zu Wort. Zwar hat sich bin Laden nicht
zu den Anschlägen bekannt, aber der Al Qaeda-Sprecher Abu Ghaith hat
doch indirekt Verantwortung übernommen, indem er weitere Anschläge
ankündigte. Auch die Lobpreisungen Osama bin Ladens für die Taten waren
für westliche Ohren enthüllend. So übernahmen alle Fernsehsender der
Welt das Video in voller Länge und übersetzten die Rede bin Ladens. 
 Die Bedenken kamen erst später. Seither werden bin Ladens Statements in
CNN nur noch im Rahmen eines redaktionellen Beitrags mit wenigen
Originalzitaten gezeigt. Das ist eigentlich die journalistisch saubere
Vorgehensweise, aber der Verdacht, dass dies doch eher aus patriotischen
Gründen geschieht, ist begründet: Hat CNN doch das letzte Video vom 3.
November so selektiv geschnitten, dass bin Ladens Forderung, die USA
mögen Beweise für eine afghanische Verantwortung für die Anschläge
vorlegen, unterging. Dafür wurde betont, bin Laden leugne seine
Beteiligung an den Anschlägen nicht. Angesichts dieses vorauseilenden
Gehorsams wirkt eine vollständige Ausstrahlung auch nicht viel
parteiischer. 
 Bei Al Dschasira schien man sich diese Frage allerdings lange überhaupt
nicht zu stellen. Das könnte einmal daran liegen, dass die vollständige
Übertragung von Statements und Pressekonferenzen sowohl bei Al Dschasira
als auch bei den anderen Weltnachrichtensendern CNN und BBC World
absolut üblich ist. Der andere Grund für diesen Umgang mit bin Laden ist
der kulturelle Hintergrund des Fernsehsenders. Er wird in der arabischen
Welt für ein arabisches Publikum gemacht. Sein Erfolg liegt darin, dass
er oppositionelle Stimmen zu Wort kommen läßt, welche die arabischen
Regime am liebsten mundtot machen. Dazu zählen sowohl säkulare
Intellektuelle als auch Islamisten. In der arabisch-islamischen Welt
wird Osama bin Laden nicht als Terrorist angesehen - dafür haben die USA
in den Augen der arabischen Welt bisher keine ausreichenden Beweise
vorgelegt. Und in seinen politischen Analysen sagt er, was viele denken.
Stichworte Palästina, Irak, Versagen der Vereinten Nationen. Auch sein
Aufruf zum Religionskrieg schockiert angesichts der amerikanischen
Bomben, die täglich auf Afghanistan fallen, nur noch wenige. Vielmehr
werden seine Worte als Reaktion auf das amerikanische Vorgehen gesehen. 
 Ein Sender wie Al Dschasira, der sich als Sprachrohr der arabischen
Gesellschaften sieht, in denen sich zumeist keine Zivilgesellschaften
entwickelnkonnten, lässt daher auch bin Laden zu Wort kommen. Neuerdings
jedoch mit Einschränkungen, wie die arabische Tageszeitung Al Hayat
vergangene Woche enthüllte. Angeblich wurde das jüngste Video von bin
Laden zunächst den Amerikanern gezeigt, damit sie es auswerten und auf
mögliche geheime Botschaften hin untersuchen können. Damit fallen die
Vorwürfe in sich zusammen, der Sender verbreite Terroraufrufe.
Allerdings sendet Al Dschasira weiter, was der Sender als "politische
Botschaft" bin Ladens bezeichnet, welche in der arabischen Welt
salonfähig ist. Damit vermitteln Al Dschasira und CNN jeweils ihre
eigenen Versionen der Realität, die bestimmt werden vom Mehrheitskonsens
in den jeweiligen Gesellschaften und manchmal durch Anweisungen der
Regierungen.

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