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[infowar.de] FR 17.11.01: Hollywood, Anthrax, Pentagon
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http://www.f-r.de/fr/spezial/terror/t2025047.htm
Wahrheit und Dichtung
Das Pentagon hat kürzlich Drehbuch-Autoren von Actionfilmen zum Erfahrungsaustausch über mögliche Terror-Szenarien eingeladen. Der New Yorker Epidemiologe und Schriftsteller John S. Marr hat bereits vor drei Jahren Attentate mit Milzbrand-Erregern in einem Roman vorweggenommen. Im MAGAZIN beschreibt er die seltsame Wechselwirkung von Fiktion und Realität.
Von Dela Kienle und Martin Scholz
Ich habe mir eine Gasmaske gekauft, allerdings schon vor drei Jahren. Damals waren sie in den USA noch nicht in Shopping Malls erhältlich. Ich musste lange suchen, bis ich endlich eine fand - in der Sado-Maso-Ecke eines Lederwaren-Shops. Ich wollte die Gasmaske als Gag zur Veröffentlichung meines Thrillers Die elfte Plage aufsetzen - rückblickend betrachtet eine ziemlich groteske Idee. In dem Buch lässt ein Verrückter Milzbranderreger auf die Zivilisation los. Eine Fiktion - zwar fundiert durch jahrelange Recherchen aus meiner aktiven Zeit als Epidemiologe und Leiter des New Yorker Gesundheitsamtes. Aber eben eine Fiktion. Wenn man vor fünf Jahren 100 Amerikaner gefragt hätte, was Anthrax ist, hätten 90 von ihnen geantwortet: eine Rockband.
Das hat sich drastisch geändert, die Realität hat die Fiktion eingeholt. Täglich werden neue Anthrax-Fälle bekannt, in Poststellen, im Pentagon, sogar im Weißen Haus - vier Menschen starben an Lungen-Milzbrand, weitere werden wegen des weniger gefährlichen Haut-Milzbrandes behandelt. Aber die Tatsache, dass Terroristen mit Anthrax-Erregern Anschläge verüben, kam nicht wirklich überraschend, nicht für uns Experten. 1995 arbeitete ich im New York State Department und war an einer Untersuchung des City Departments beteiligt, die Möglichkeiten eines Angriffs mit biologischen Waffen ausloten und erforschen sollte. Einige hielten das für sehr unwahrscheinlich. Ich nicht, ich habe die Informationen und Hintergründe später in meinem Buch verfremdet.
Die Fiktion hat die Realität vorweggenommen, nicht nur in der Literatur, sondern in vielen Bereichen. Ein bildender Künstler, der im World Trade Center ums Leben kam, hatte zuvor eine menschliche Skulptur geschaffen, die von Flugzeugen durchbohrt war. Tom Clancy hat einen Roman darüber geschrieben, wie Passagier-Flugzeuge von Terroristen in Hochhäuser gelenkt werden, und aus Hollywood gibt es eine Fülle ähnlicher Terror-Szenarien. Rückblickend betrachtet erscheint es fast so, als hätten Filme, Bücher oder Kunst die aktuelle Bedrohung präziser vorausgesehen als die offiziellen Stellen. Aber dient Fiktion deshalb als Blaupause für Terroristen? Der Regisseur Robert Altman hält die Filmindustrie für mitschuldig an den Attentaten. Die Actionfilme seien quasi Übungsfilme für die Terroristen gewesen, Hollywood hätte ihnen gezeigt, wie es geht. Das ist vielleicht ein bisschen dick aufgetragen - aber der Gedanke ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Er hat auch meinen Co-Autor John Baldwin und mich beschäftigt. Wir wollten auf keinen Fall, dass die in der Elften Plage beschriebenen wissenschaftlichen Informationen als Anleitungen benutzt werden könnten. Die erforderlichen Verfahren und Materialien zur Herstellung der Toxine sind verändert worden - auch die Formel, wie man Anthrax-Sporen bekommt und vermehrt. Wenn es jemand so versucht hätte, wie es im Buch beschrieben wird, hätte er nur eine blutige Suppe bekommen, sonst nichts.
Dichtung und Wahrheit scheinen sich in diesen Tagen gegenseitig zu verstärken. Eine seltsame Wechselwirkung. Neben Altmann hat nun auch das Pentagon Hollywood ins Visier genommen - allerdings aus anderen Gründen. Jetzt haben sich Geheimagenten und Militärvertreter zum Erfahrungsaustausch getroffen: Die Kreativen der Film-Szene sind zu einer Art Terror-Spezialisten aufgestiegen, sollen Szenarien ausdenken, die sich die Sicherheitsexperten bisher nicht vorstellen konnten. Eine lächerliche Aktion.
Natürlich gibt es Dutzende Horror-Szenarien, die einem Angst einjagen könnten. Leider haben die Leute in Hollywood, bis auf ein oder zwei Ausnahmen, keine ausreichende Kompetenz und Fachkenntnis, was Biowaffen betrifft. Die kennen noch nicht mal den Unterschied zwischen Viren und Bakterien. Genauso wenig kennen sie sich damit aus, wie die staatlichen Gesundheitsbehörden reagieren würden. Der Katastrophen-Film Outbreak von Wolfgang Petersen war dafür ein abschreckendes Beispiel. Da spielte Dustin Hoffman einen Militärvirologen, der den Ausbruch eines afrikanischen Killervirus verhindern sollte - das Szenario war absurd, und die Fachbegriffe wurden falsch verwendet. Auch die Reaktion der Behörden auf die Epidemie - eine Kleinstadt sollte zerbombt werden - war absolut unrealistisch.
Außerhalb der Kinosäle, davon bin ich überzeugt, wird es keine derartigen Katastrophen geben. Das tödliche Ebola-Virus breitet sich nicht so leicht aus, wie es der Film zeigt. Auch Szenarien, die eine Bedrohung mit Pocken- und Pest-Erregern skizzieren, sind unrealistisch. Selbst für Leute mit viel Geld dürfte es sehr schwierig sein, an Pockenviren heranzukommen. Sie werden nur in zwei Laboren aufbewahrt, eines in den USA, das andere in Russland.
Aber es gab auch immer wieder Alarmsignale: 1995 hatte es der Rechtsradikale Larry Harris mit Hilfe eines gefälschten Uni-Briefpapiers geschafft, drei Ampullen mit Pestbakterien bei der "American Type Culture Collection" zu bestellen - und er hätte sie fast bekommen. Er flog nur deshalb auf, weil er ungeduldig Mahnungen verschickt hatte. Das hat viele wachgerüttelt: Seitdem sind die Kontrollen erheblich verschärft worden - ein Gesetz schreibt striktere Identitätskontrollen vor.
Bei all den Berichten um Milzbrand wird in diesen Tagen oft vergessen, dass es früher eine recht verbreitete Krankheit war. In den USA war es sogar in den 20ern noch ein Risiko für Leute, die in der Verarbeitung von Wolle oder von Leder arbeiteten. Von 1920 bis 1931 haben in einer Wolle verarbeitenden Fabrik rund zehn Prozent der Belegschaft Milzbrand bekommen. 20 Prozent von ihnen sind gestorben. In den 70ern hat sich ein Weber aus Kalifornien angesteckt, der pakistanische Wolle importiert hatte. Er hat Anthrax-Sporen eingeatmet und ist daran gestorben. Alle anderen Leute, die diese Woll-Lieferung erhalten hatten, konnten behandelt werden.
Die Amerikaner sind derzeit besorgt, aber sie sind nicht hysterisch. Was sicher mit der Berichterstattung in den Medien zu tun hat, die im Gegensatz zu Hollywood nicht ständig neue Desaster-Fantasien entwickeln, sondern fehlerfrei und exakt über Biowaffen berichten. Fast schon zu exakt. Das sonst übliche Wirrwarr von sich widersprechenden Experten blieb weitgehend aus. Stattdessen reden immer die gleichen Leute. Das macht skeptisch. Nun kenne ich viele Experten der Seuchenbekämpfung - herausragende Wissenschaftler in der Armee wie in zivilen Instituten - keiner von ihnen wurde nach den jüngsten Anthrax-Anschlägen öffentlich gefragt. Es scheint auch, als habe das FBI den "Centers for Disease Control and Prevention" eine Art Maulkorb verpasst - die Informationen über Anthrax gelangen nur gefiltert an die Öffentlichkeit. Was verständlich ist, weil das FBI die Anthrax-Anschläge als Kriminalfälle betrachtet.
Dichtung und Wahrheit - ein weites Feld. Wer unabhängige Analysen von Experten will, ist derzeit mit der Internet-Seite "<http://www.promedmail.org>www.promedmail.org" besser bedient. In diesem virtuellen Expertengremium tauschen sich regelmäßig mehr als 20000 Ärzte und Wissenschaftler aus. Es ist ein Depot für objektive Informationen, die nicht von regierungsnahen Einrichtungen verdreht werden können. Eine unabhängige Organisation wie "Promed-Mail" wird keine politische Propaganda machen und ist daher von größerer Bedeutung als beispielsweise Hollywood-Autoren, die Geheimdienstler beraten. Diese Unabhängigkeit hat freilich ihren Preis. Seit seiner Gründung vor sieben Jahren stand "Promed-Mail" mehrmals vor dem finanziellen Ruin, da es staatliche Zuschüsse prinzipiell ablehnt. Vor zwei Jahren hatte es einen Etat von 200000 Dollar - der ausschließlich durch Spenden von Privatleuten und nichtstaatlichen Organisationen zustande kam. Inzwischen haben sich die Betreiber mit der Harvard-Universität zusammengetan. Auch ich habe es mit Einnahmen meines Romans Die elfte Plage unterstützt. Um Werbung für diese Organisation zu machen, habe ich damals einen ihrer Mitarbeiter als Vorlage für meinen Roman benutzt. Jack Woodell von "Promed-Mail" wird in meinem Buch zu Jack Bryne, der den Verrückten jagt.
Ich habe schon vor dem 11. September mit der Fortsetzung zu der Elften Plage begonnen und jetzt noch mal vieles über den Haufen geworfen. Diesmal hat die Realität die Fiktion eingeholt. Ich will den Anschlag auf das World Trade Center und auch die realen Anthrax-Fälle einarbeiten. Ein seltsames Gefühl, wenn die Fiktion von der Realität eingeholt wird.
John S. Marr studierte in Harvard und war lange Jahre Direktor und erster Epidemiologe des Gesundheitsamtes in New York. Er hat zwei Thriller, Der schwarze Tod und Die elfte Plage (Econ), sowie zahlreiche Sachbücher und Forschungsberichte geschrieben. Er hat sich vor allem um den internationalen Austausch von Informationen zum Thema Epidemiologie bemüht. Marr lebt heute mit seiner Familie in Connecticut.
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