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[infowar.de] neuer Fernsehsender in Afghanistan



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Frankfurter Rundschau 27.11.2001

Wachgeküsst 

Nach fünf Jahren Fernsehabstinenz in Afghanistan versuchen Journalisten
einen unabhängigen Sender aufzubauen 

Von Florian Hassel (Kabul) 

Fernsehen ist gewöhnlich ein hektisches Geschäft. Doch Schir Mohammed
hatte jahrelang einen ruhigen Job. Wollte er sich beschäftigen,
sortierte der Archivchef des afghanischen Fernsehens die Abteilung
indischer Spielfilme neu oder wischte den Staub von den Kassetten im
Nachrichtenarchiv. Fünf Jahre lang war Mohammed genauso überflüssig wie
der kleine Rest der Fernsehleute. Nachdem die Taliban im September 1996
die Macht in Kabul übernommen hatten, schickten sie Mohammed und seine
Kollegen in den unfreiwilligen Ruhestand. Wie alle anderen Bilder, die
Menschen und andere Lebewesen abbildeten, hielten die Taliban Fernsehen
für des Teufels und verboten es. 

Seit die Taliban Kabul in der Nacht zum 13. November Hals über Kopf
verlassen haben, ist das afghanische Fernsehen aus dem unfreiwilligen
Dornröschenschlaf erwacht. Es ist kurz vor Sendebeginn, doch
Fernsehdirektor Schamsudin Hamid hat noch keine Ahnung, was der
Spielfilm des Abends sein wird. Der amerikanische Actionfilm "Cobra"?
Oder doch lieber der französische Streifen "Tango Cash"? "Eigentlich
egal", sagt der Chef, ein schlanker 36-Jähriger mit schwarzen Haaren,
Sonnenbrille und einer weißen Pilotenjacke, seinen Mitarbeitern. "Aber
spult die Filme noch einmal durch, um zu sehen, ob die Bänder nicht
gerissen sind." 

Das einzige, was Hamid in diesen Tagen, da der Krieg gegen die Taliban
noch nicht beendet ist, nicht auf dem Bildschirm sehen will: "Liebes-
oder Kriegsfilme. Schließlich sind wir immer noch in einer kritischen
Situation." Und das gilt nicht nur an der Front. Bei ihrem Abzug haben
die Taliban Generatoren, Autos und Transmitter mitgenommen. Die Kameras
und Studios des von ihnen ungeliebten Fernsehens ließen die Taliban
dagegen weitgehend unangetastet. 

Fünf Tage nach dem Fall von Kabul hatte Hamid die 20 Jahre alten Kameras
und die eingemotteten Studios so weit hergerichtet und so viele
Mitarbeiter um sich geschart, um am Sonntag vor einer Woche wieder auf
Sendung zu gehen. Da es in der afghanischen Hauptstadt Strom frühestens
am späten Nachmittag gibt, strahlt das Fernsehen erst um sechs Uhr
abends drei Stunden Programm aus. Viel mehr war es früher auch nicht:
"Vor den Taliban hatten wir vier, höchstens sechs Stunden Programm",
sagt Hamid.

Präsent sein ist alles, der Aufwand des noch werbefreien Programms noch
gering: Nach fünf Minuten Koran-Rezitieren und sieben Minuten zum
Fastenmonat Ramadan bietet Hamid seinen Zuschauern eine halbe Stunde
Kinderprogramm, eine Viertelstunde "Report aus Kabul", Musik, und dann
die Nachrichten: dem Vielvölkerstaat Afghanistan entsprechend in Paschtu
und Dari, den beiden Hauptsprachen des Landes. Danach schiebt Archivchef
Mohammed den Spielfilm des Abends ein.

Dass Mohammed überhaupt noch eine Kassette aus dem Regal ziehen kann,
ist pures Glück. Warum die Taliban das 10 000 Filme starke Archiv
unangetastet ließen, weiß Mohammed nicht. Ebenso wenig kann er sich
erklären, warum sie im Sommer begannen, afghanische Spielfilme zu
vernichten. "300 Filme haben wir versteckt, doch 600 sind verbrannt."
Ende Oktober, zwei Wochen bevor die Taliban Kabul räumten, befahl
Kulturminister Mullah Kudratullah, das gesamte Archiv zu vernichten.
"Wir haben mit den ältesten Bändern angefangen, die ohnehin fehlerhaft
waren", sagt Mohammed. "Wenn die Taliban noch länger geblieben wären,
hätten wir alle Filme verloren." 

Das Programm sagt, wie an jedem Abend, Mariam Schakebar an. Mit ihrem
von einem grünen Seidenkopftuch umrahmten Gesicht und dem dezent
aufgetragenen Lippenstift ist das erst 16 Jahre alte Mädchen mit den
schwarzen Haaren für die Zuschauer ein ungewohnter Anblick nach fünf
Jahren Taliban-Herrschaft, in der von Kopf bis Fuß verschleierte Frauen
vorgeschrieben waren. Programmdirektor Homajuon Rawi wählte Mariam als
Symbol der neuen Rolle von Frauen nach dem Fall der Taliban. Auch die
Nachrichten werden von einer Frau präsentiert: Lida Asimi,
Starmoderatorin aus Vor-Taliban-Zeiten. "Bevor die Taliban kamen, habe
ich mit elf Jahren das Kinderprogramm moderiert", sagt Mariam. "Als ich
jetzt vom Abzug der Taliban erfuhr, bin ich sofort zurückgekommen." Ihr
großer Bruder, ein Student, packt als Produzent mit an: Fernsehen in der
Stunde Null.

Vor Sendebeginn ähnelt das afghanische Fernsehen einer großen
Wohngemeinschaft. Dann versammelt sich ein Großteil der Mannschaft in
der Kantine mit den herausgeschossenen Fenstern. Kaum ist die Sonne
untergegangen, stürzen sich die Redakteure auf das Fladenbrot und die
dünne Fleischbrühe - wegen des Fastenmonats Ramadan die einzige Mahlzeit
des Tages. Auch sonst ist Schmalhans Küchenmeister. "Geld für Gehälter
gibt es nicht", sagt Direktor Hamid. "Wir haben ja noch nicht einmal
eine Regierung, geschweige denn jemand, der für uns zuständig ist."
Reporter hat Hamid "weniger als Finger an einer Hand". Mehr
Korrespondenten könnte der Chef ohnehin nicht auf Recherche schicken:
Der Produktionsleiter hat nur drei mobile Kameras zur Verfügung. Geld
für den Bezug einer internationalen Nachrichtenagentur hat Hamid ebenso
wenig wie für den Kauf von Leerkassetten. Glücklicherweise fanden sich
400 leere Cassetten. "Wenn nicht zu viele reißen, kommen wir noch zwei
Monate über die Runden", sagt Hamid. 

Um Radio Shariat, den Propagandasender der Taliban, auszuschalten,
bombardierte die US-Luftwaffe vor einigen Wochen "den einzigen
leistungsfähigen Transmitter in den Bergen über Kabul", sagt Hamid.
Jetzt senden die Fernsehleute mit einem Nottransmitter und decken mit
Mühe und Not das Stadtgebiet von Kabul ab. Doch ein afghanisches
Fernsehen, das landesweit zu empfangen war, gab es auch vor den Taliban
nicht, sagt Hamid. "Auch früher waren wir nur bis 80 Kilometer um Kabul
zu sehen." Darüber hinaus hatte jede größere Stadt ihr eigenes
Lokalfernsehen und übernahm nach eigenem Gutdünken Programme aus der
Hauptstadt. 

Als in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Mudschaheddin unter ihrem
Präsidenten Rabbani und dem charismatischen Ahmed Schah Massud in Kabul
regierten, war Hamid ein junger Fernsehreporter. Später ging er mit den
Kämpfern Massuds mit in den Norden und machte Fernsehen für die
Nordallianz. Wenige Tage nach der Eroberung von Kabul wurde Hamid nun
zum Fernsehdirektor ernannt. Nicht von den neuen Herren Kabuls, so
beteuert er, sondern von einer aus Journalisten gebildeten Kommission.

Künftig, so sagt Hamid, wollen seine Journalisten und er in Afghanistan
etwas bisher Unbekanntes aufbauen: ein politisch unabhängiges Fernsehen.
Zur Zeit des kommunistischen Regimes in den 80er Jahren zensierte das
berüchtigte "Siebte Kommittee" des Geheimdienstes das Fernsehen. Auch
die Mudschaheddin hatten nichts für unabhängigen Journalismus übrig und
verboten viele Publikationen oder sperrten ihnen das Geld. "In
Afghanistan hat das Fernsehen immer den Standpunkt der gerade
Regierenden übernommen. Aber wir werden uns von niemanden seine Sicht
aufzwängen lassen", sagt Hamid. Gerade erst habe er ein Interview mit
einem Beamten ausgestrahlt, der den nominell noch amtierenden
Präsidenten Rabbani harsch kritisiert habe.

Meldungen, nach denen die Kämpfer der Nordallianz mit gefangenen
Taliban, vor allem wenn sie aus dem Ausland kommen, nicht viel
Federlesens machen und sie entgegen den Regeln des Kriegs- und
Völkerrechts ermorden, haben es allerdings noch nicht ins afghanische
Fernsehen geschafft. "In den ersten Tagen hatten wir viele technische
Probleme", sagt Direktor Hamid entschuldigend. Von der Bonner
Afghanistan-Konferenz will Hamid seinen besten Reporter unabhängig
berichten lassen. Das Flugticket soll allerdings die Führung der
Nordallianz bezahlen. "Dafür haben wir kein Geld."

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