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[infowar.de] SPIEGEL ONLINE - Schnüffeltechnik: Großer, dummer Bruder
Infowar.de, http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/liste.html
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Schnüffeltechnik: Großer, dummer Bruder
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Digitale Schnüffeltechnik macht Menschen Angst: Mit 17 Jahren
Verspätung könnte "1984", Orwells Vision vom totalen
Überwachungsstaat, doch noch wahr werden. Wenn die Technik nicht so
dämlich wäre.
Von Frank Patalong
Kurz nach den Terrorattacken des 11. September, bei denen Tausende
Menschen starben, kam es auf Einladung des amerikanischen
Justizministers zu einem Treffen von Vertretern führender
Internet-Provider.
Am 26. September verkündeten die US-Sicherheitsbehörden, bereits rund
350 Verdächtige identifiziert und verhaftet, 400 weitere zu
Vernehmungen bestellt, 324 Wohnungen durchsucht und 3410 gerichtliche
Vorladungen verschickt zu haben. Zwei Wochen später lag die Zahl der
Inhaftierten bei rund 500, kurz darauf bei 1100.
Das eine hat eine Menge mit dem anderen zu tun. Im Rahmen der
Fahndungen nach Terroristen, Sympathisanten und sonstigem Umfeld
spielte ein System eine nicht zu unterschätzende Rolle, von dem
Datenschützer und Bürgerrechtler seit langem mit Grauen reden:
Carnivore, das direkt bei den Internet-Providern zu installierende
digitale Schnüffelsystem des FBI.
Dem, behaupten manche, entgehe so gut wie nichts: Faxe, E-Mail,
Surfverhalten, SMS-Nachrichten und - im Verbund mit den FBI-Systemen
Fluent und Oasis - auch fremdsprachliche Dokumente und Anrufe würden
erfasst, dokumentiert und weitgehend automatisch analysiert. Ein
Alptraum, und das in mehr als einer Hinsicht.
Denn so "intelligent" und erfolgreich die modernsten Schnüffelsysteme
der Welt arbeiten, wenn man sie auf spezifische Ziele richtet, so
dämlich agieren sie bei dem Versuch, Nadeln in Heuhaufen zu finden.
Und der Daten-Heuhaufen, den menschliche Kommunikationslust täglich
auftürmt, ist verteufelt groß.
Nach dem 11. September 2001 fragten viele: Wie war das möglich, wo
doch Carnivore und Echelon, Fluent und Oasis, Tempest und ungezählte
geheime und namentlich nicht bekannte Spionage- und Schnüffelsysteme
mit nichts anderem beschäftigt sind, als die weltweite Kommunikation
zu überwachen, auszuspionieren, sie zu dokumentieren und zu
analysieren?
Die Antwort darauf ist eine Zahl: Drei Milliarden
Drei Milliarden Faxe, SMS-Nachrichten, Anrufe und E-Mails gehen
täglich allein durch die Kabel und über die Satelliten, die von
Echelon überwacht werden - über Grenzen hinweg, teils verschlüsselt
oder in exotischen Sprachen verfasst. Das ist einerseits eine
konservative Schätzung, andererseits nur ein Bruchteil des weltweiten
Gesamtaufkommens.
Echelon erfasst diese unermesslich große Kommunikationsflut - und
schafft dies zugleich doch nicht, sagt einer, der es wissen muss:
Gerhard Schmid, Europa-Abgeordneter und bis vor kurzem
EU-Berichterstatter in Sachen Echelon. Schmid weiß eine Menge
darüber, und er glaubt, die Fähigkeiten des amerikanisch-britischen
Spionagesystems recht gut einschätzen zu können.
In seiner Sicht hat Echelon zwei Seiten, und die sind unterschiedlich
gefährlich. Präzise auf ein Ziel gerichtet leiste Echelon ganze
Arbeit, könne etwa den Kommunikationsfluss eines Unternehmens
ziemlich deckend überwachen. Eine Erkenntnis, die ihn und
EU-Kommissar Erkki Liikanen schon Anfang des Jahres veranlasste, die
Unternehmen in der EU dazu zu mahnen, Verschlüsselungs-Software
einzusetzen.
Doch Industriespionage ist nicht die Seite von Echelon, die
Bürgerrechtlern und Datenschützern Kopfschmerzen bereitet. Wie steht
es um die angeblich existierende Vollüberwachung aller Kommunikation
in Europa? Um die Totalüberwachung des "kleinen Mannes"?
Ist es nicht so, dass Echelons Filter alles erfassen können?
In dieser Hinsicht, sagt Schmid, sei Echelon "eine Schrotflinte"
Soll heißen: Man ballert irgendwo hin, vieles fällt zu Boden - und
kaum etwas davon wollte man auch treffen.
Die bei weitem meisten der nach der WTC-Katastrophe wegen
Terror-Verdacht Inhaftierten in den USA sind längst wieder frei. 550
Menschen hingegen schmoren weiterhin hinter Gittern, die meisten
wegen Pass- und Einwanderungsdelikten.
Auch Carnivore ist eine Schrotflinte, ein Instrument der
Rasterfahndung - und die ist notorisch erfolglos, was ihre
eigentlichen Ziele angeht. So führte der deutsche
Rasterfahndungs-Wahnsinn der Siebziger bewiesenermaßen nur zu einer
einzigen Verhaftung: 1979 verbuchte das BKA mit der Verhaftung von
Rolf Heißler den ersten und einzigen Rasterfahndungs-Erfolg. Alle
anderen Zugriffe auf RAF-Täter kamen durch klassische Polizeiarbeit
zu Stande. Bundesinnenminister Otto Schily hält trotzdem am
Instrument der Rasterfahndung fest: Das sei ein "sehr
erfolgträchtiges" Instrument - und das würde Schily gern mit neuesten
technischen Möglichkeiten aufrüsten.
Das würde den Fahndungsbehörden eine Flut von Datenmaterial
bescheren, obwohl sie schon jetzt nicht mehr mit dem zurecht kommen,
was heute über die Leitungen, aber auch durch Akten,
Karteikartenkästen und über Schreibtische geht.
Das Problem könnte aber auch größer kaum sein: Die schier
unermessliche Daten-Masse, die menschliche Kommunikationssucht
täglich produziert, sprengt die Kapazitäten heutiger Rechner bei
weitem. Sicher, erfassen kann das Mega-Schnüffel-System Echelon diese
magischen drei Milliarden digitalen Botschaften vielleicht noch
(Festplatten sind billig, Arbeitsspeicher auch). Aber sie sinnvoll
dokumentieren, wirklich analysieren?
Das gelingt auch den Search Engines des Webs nicht: Sie stehen - rein
numerisch - ja vor ähnlichen Aufgaben. Aus einer Vielzahl von
Dokumenten sollen sie nach den Vorgaben eines Filters möglichst
sinnvolle Treffer aussortieren. Eine Arbeit, die am Ende in aller
Regel nur der Surfer selbst erledigen kann - ohne je zu erfahren,
welche Kleinodien die Search Engine ihm mit seiner Grobauswahl
vorenthalten hat.
Interaktive Grafik: Das Echelon-System
Wer aber soll die Suchergebnisse der Schnüffelcomputer aus drei
Milliarden Botschaften in zahlreichen verschiedenen Sprachen sichten
und bewerten? Wer analysiert das 20-minütige Gespräch über
Stützstrümpfe und Verdauungsprobleme darauf, ob es vielleicht einen
Code enthält? Die Entscheidung, eine Personaldecke einzuziehen, die
das ermöglichte, könnte man werbewirksam in jedem Wahlkampf
einsetzen: Vollbeschäftigung durch Geheimdienstarbeit.
Doch auch das ist natürlich Unsinn, denn die wenigsten Arbeitslosen
sprechen Arabisch, Urdu, Suaheli oder Baskisch. Da kann es dann kaum
verwundern, dass es Ende September auch aus FBI-Kreisen klagend
tönte, man könne gar nicht genügend viele gute Übersetzer finden, um
all die schönen Mitschnitte auch auszuwerten. Und überhaupt sei der
Bestand an Computern und Software ja dermaßen veraltet, dass die
Polizeibehörden kaum vorankämen mit ihrer Arbeit.
Das kennen die deutschen Kollegen auch gut. In das seit zehn Jahren
in Entwicklung befindliche Polizei-Netzwerk Inpol-Neu haben BKA und
Landeskriminalämter bisher rund 100 Millionen Mark investiert und
werden - laut Rechnungshof - bis 2005 insgesamt geschätzte 280
Millionen Mark in das so prestigeträchtige, wie kraftvoll geplante
IT-System versenken.
Jawoll, versenken - denn das System funktioniert nicht. Und hier geht
es um BKA und LKA - die oberste Kruste der deutschen
Polizeihierarchien. Wie es IT-mäßig in deutschen Polizeiwachen
aussieht, steht auf einem völlig anderen Blatt. Beamte der hoch
gelobten Münchner Kripo hatten noch im Sommer Probleme, Anzeigen zu
überprüfen, die auf Straftaten in P2P-Börsen verwiesen: Es gab keine
Rechner, mit denen man sich da hätte einloggen können.
Der Start von Inpol-Neu, der mit einer groß angelegten Erneuerung
auch der Terminal-Bestände bei BKA und LKAs einher gehen sollte,
wurde gerade von Ostern 2001 auf frühestens Oktober 2002 verschoben.
Der Haushaltsausschuss des Bundestages ist nicht länger willens, der
IT-Ruine Geld hinterher zu werfen.
Wie beruhigend, dass die Berliner Polizei bereits zum Entsatz eilt,
wie die "Bild" am 13. November meldete: "Polizei baut
Super-Informations-Computer auf." Im "Netzwerk Intelligence" der
Berliner sollen dann die Infos aus Polizeiabschnitten und
LKA-Direktionen zusammenlaufen. Das klappt auch bei BKA und LKA noch
leidlich, seit man sich dort zu einem kleinen Kompromiss
durchgerungen hat: Bis Inpol-Neu läuft, nutzen die Behörden einfach
das alte System weiter, das einigermaßen funktioniert. Software und
Terminals des alten Inpol-Systems haben übrigens satte 30 Jahre auf
dem Buckel: Das verhindert zwar Recherchen in P2P-Börsen, ist aber
noch Wertarbeit. Na dann, Berlin: Toi, toi, toi beim "Aufbau" des
"Supercomputers".
Auch das FBI setzt auf Rechner, wenn Experten fehlen
Als das FBI im Oktober diesen Jahres ausgesuchten Journalisten die
Hexenküchen seiner Kellergeschosse öffnete, da waren die Tränen über
fehlende Übersetzer schon wieder getrocknet: Stolz führten die
Verantwortlichen unter anderem ihr Fluent-Programm vor.
Aufgabe des Schnüffelhelfers: die automatische Übersetzung von
Kommunikation aus diversen Sprachen ins Englische, damit die
Nachrichten dann diverse Filter durchlaufen können, um potenziell
verdächtige Wortkonstellationen zu finden. Analog verfahren die
Fahnder mit massenhaft erfassten Telefonaten, die von einer
Spracherkennungs-Software seziert werden. Noch ein Alptraum,
zumindest für jeden, der je einen koreanischen Staubsauger gekauft,
seiner Textverarbeitung einen Brief diktiert oder Babelfish im Web
benutzt hat.
Es gibt natürlich die Experten, die kryptische Andeutungen über die
unfassbare Potenz der Geheimdienst-Software machen: Klassen besser
sei die als alles, was der freie Markt je hervorgebracht habe. Ein
unabhängiges Institut, das auf öffentlichen Druck hin Anfang 2001
Carnivore unter die Lupe nehmen durfte, zog ein anderes Fazit: Die
Software unterscheide sich kaum von handelsüblicher Software, mit der
immer mehr Arbeitgeber ihre Angestellten beschnüffelten.
Doch selbst wenn die Programme alle perfekt laufen, schnüffeln,
horchen, übersetzen, filtern: Wie wahrscheinlich ist es wirklich,
dass sich auf diese Art und Weise präventiv Kenntnisse erlangen
lassen? Dass man auf diese Weise große Bevölkerungsgruppen
tatsächlich "überwachen" könnte? Wie findet man sie, die wirklich
wichtigen, die relevanten Informationsfetzen in der Kakophonie von
drei Milliarden Trivialitäten am Tag?
Indem man klug sucht, sagen die Verfechter der Schnüffeltechniken,
die darauf bestehen, dass man mit ihren Technologien auch künftige
Terrorakte verhindern könne. Die Zusammenstellung, Zahl und Richtung
der streng geheimen Suchwort-Ketten, die für Carnivore eingesetzt
werden, munkelt es kryptisch aus FBI-Kreisen, werden "täglich
geändert".
Na und?
Völlig zu Recht wenden Skeptiker ein, dass das WTC-Desaster nicht
verhindert werden konnte, obwohl die Sicherheitsbehörden auch
elektronisch nach Terroristen fahndeten. Mehr noch: Wochen nach der
fatalen Attacke wurde ruchbar, dass man in den Datenbeständen von
Echelon sogar einzelne Indizien gefunden habe, die sich im Nachhinein
zu Hinweisen auf die Planung der Terrorakte vom 11. September
montieren ließen.
Doch wie sagt der Volksmund?
"Nachher ist man immer schlauer"
Das gilt, wenn man John Pike, dem Chef des Unternehmens
GlobalSecurity glaubt, ganz besonders für digitale Schnüffelsysteme,
die für nachträgliche Rasterfahndungen eingesetzt werden: Sie liefern
eine Unmenge an Materialien und an möglichen Verdächtigen. Daran
werde man sich gewöhnen müssen, wenn man sich dazu entschließe,
solche Techniken einzusetzen. 550 so ganz nebenbei wegen Pass- und
Einwanderungsdelikten Inhaftierte dürfen sich gerade hinter Gittern
daran gewöhnen.
Die Kritiker der Schnüffel-Fans glauben nicht, dass beim massenhaften
Einsatz digitaler Überwachungsmethoden irgend etwas Sinnvolles
herauskommen könne: Viel zu einfach sei es, digitale
Schnüffelprogramme auszutricksen. Dafür reiche es schon,
Schlüsselworte durch harmlose Alternativen zu ersetzen. Ein
Briefwechsel über die Muppets ginge wohl wirklich im digitalen
Rauschen unter: Was aber, wenn sich hinter Kermit, dem Briefschreiber
X "eines vor die Glocke" geben wollte, Georg W.Bush verbergen würde?
Primitiver geht es kaum: Wer an den Erfolg digitaler Schnüffelsysteme
durch flächendeckende Kommunikationsüberwachung glaubt, der geht
davon aus, dass Terroristen, Attentäter und Kriminelle im Klartext
von ihren Plänen sprechen würden. Das Gegenteil ist der Fall: Da wird
verschlüsselt, was das Zeug hält.
Grund genug für aktuelle Forderungen nach digitalen
"Vermummungsverboten", einer "Ausweispflicht" im Web und - natürlich
- nach Verschlüsselungsverboten. Weil es gerade Kriminelle so an sich
haben, auf Verbote gern zu pfeifen, gehen die amerikanischen Behörden
noch einen Schritt weiter: Das FBI bemüht sich derzeit, die
Genehmigung zu bekommen, auf den Rechnern von Verdächtigen Trojaner
zu installieren, um Passworte und Kryptografie-Schlüssel
auszuforschen. Schon soll es für dieses geplante Projekt "Magic
Lantern" zu ersten Verhandlungen mit Virenschutz-Softwareentwicklern
gekommen sein, damit deren Sicherheitssoftware nicht etwa auch die
guten kleinen FBI-Trojaner kille.
Das ist nur konsequent. Richtig erfolgreich sind die digitalen
Schnüffelmethoden ja nur dann, wenn sie zur gezielten Observation
eingesetzt werden. Als Schüttelsiebe sind Echelon, Carnivore und Co.
nicht tauglich: Große Ohren, zu wenig Hirn. Setzt man sie jedoch als
Trichter ein, durch den alle Kommunikation eines Observierten laufen
muss, dann sind sie kaum zu schlagen.
Da bleibt dann nur die Frage, warum die Law-and-Order-Fraktion
überhaupt weltweit nach flächendeckender Observation ruft. Nur weil
sie, wenn sie alle belauschen darf, nicht mehr nach einer Genehmigung
für die Observation Einzelner fragen muss? Weil es prinzipiell keinen
großen technischen Unterschied zwischen Netzüberwachung und
Lauschangriff gibt?
Seit dem 11. September stößt all das selbst in den einst
Freiheits-verliebten USA kaum mehr auf Kritik. "Wired", einst die
Hauspostille der Cyber-Befreiten, die wie John Perry Barlow bereits
die Selbstauflösung des Nationalstaates in einer grenzenlosen Cyberia
nahen sahen, heißt seine Leser in der Dezemberausgabe willkommen in
der Überwachungsgesellschaft. Tenor des Artikels:
Gewöhnt euch dran, Leute
So wie die Briten? Im europäischen Mutterland der Überwachung wird
jeder Bürger im öffentlichen Raum durchschnittlich alle fünf Minuten
einmal fotografiert oder gefilmt. Hier liegt die wirkliche Gefahr:
nicht im "gläsernen Bürger", sondern darin, dass der öffentliche Raum
zum Aquarium wird. Genau darauf zielen die Befürworter digitaler
Beschnüffelungstechniken: Es geht nicht um die Durchleuchtung des
Einzelnen, sondern um die Kontrolle des öffentlichen Raumes.
Die Berechtigung solcher Maßnahmen wird etwa in Großbritannien kaum
in Zweifel gezogen: Schon Anfang der Neunziger gingen die kindlichen
Mörder des Kleinkindes James Bulger den Fahndern nur deshalb ins
Netz, weil sie zufällig von einer Überwachungskamera beobachtet
wurden. Ein Killerargument im wahrsten Sinne des Wortes, das in
Großbritannien einen in der westlichen Welt beispielslosen Boom in
der Video-Überwachung des öffentlichen Raumes ermöglichte. Und
wieder: Die Überwachung verhinderte nichts, sie "half" nur im
Nachhinein.
Im Nachhinein wurde nun auch bekannt, dass das von der britischen
Regierung nach dem 11. September auf den Weg gebrachte
Telekommunikations- und Internet-Überwachungsprogramm für alle
Polizeibehörden und Geheimdienste zugänglich sein wird. Die
Einsetzung einer Kontrollinstanz planen die Briten derzeit nicht, was
ein paar kritische Zeitungskommentare zur Folge hatte. Auf die
Barrikaden ging jedoch niemand: "Datenschutz" ist ein Wort, das sich
nicht im englischen Wortschatz findet.
Das englische Modell stand nun auch Pate bei den Beratungen rund um
das Freitag letzter Woche verabschiedete internationale
Cybercrime-Paket. Schnüffeln ist Trend.
Manchmal heißt "Schnüffeln" noch nicht einmal so
Weltweit wird etwa an der Entwicklung intelligenter
Verkehrsleitsysteme gearbeitet, die den Verkehr observieren und
leiten. Ein aktueller amerikanischer Ansatz: die Aufzeichnung der
Bewegungsmuster von Mobiltelefonen, um daraus Informationen über
Staus und andere Verkehrsereignisse zu deduzieren. Im Bedarfsfall
wird dann das Handy zur Wanze, wenn der bis dahin anonyme
"Staumelder" aus anderen Gründen zum gesuchten Mann wird. Auch als
technische Innovationen bejubelte Autos mit GPS-Systemen und
Online-Anbindung bieten nicht nur dem Käufer zahlreiche luxuriöse
Dienste, sondern auch etwaigen Überwachern: Die Ausgaben für eine
Wanze können auch hier wohl künftig entfallen.
Auch dass Nottingham es über die Installation der weltweit größten
Kameradichte im öffentlichen Raum geschafft hat, seinen Stadtkern zu
entkriminalisieren, ist weltweit von Stadtplanern und
Polizeivertretern beobachtet und anerkennend vermerkt worden.
Personalausweise - so wird parallel in den USA, Großbritannien und
Deutschland diskutiert - sollten künftig mit Fingerabdrücken
ausgestattet werden. Der deutsche Tinten-Ansatz ist da gegenüber den
genetischen Finderabdrücken, die in der angelsächsischen Welt
diskutiert werden, geradezu moderat.
Aber es gibt ja nicht nur Finger, sondern auch Gesichter: Die
Tatsache, dass die bereits zunehmend auf Flughäfen installierten
Gesichtserkennungssysteme vorn und hinten nicht funktionieren, kann
dabei kaum beruhigen. Im Gegenteil: Wie viele der geplanten und
bereits umgesetzten Schnüffel- und Kontrollsysteme verspricht auch
dieses nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Belästigungen.
Droht uns also nun doch noch der "Big Brother"?
Irgendwie schon.
Nur ist der nicht - wie bei Orwell - allwissend, allgegenwärtig und
perfide im Einsatz seiner Macht. Der Big Brother der westlichen Welt
ist eher ein sehr, sehr großer, dummer Bruder mit mächtig breiten
Füßen, der stets das Gute will und jedem auf die Zehen tritt. Einer,
der - wenn er "Böse" fängt - mit vollen Händen in die Menge greift
und erst dann beginnt zu sortieren.
Einer, der in "Kriterien" denkt, nicht in "begründeter Verdacht":
Viele haben das schon längst ganz intuitiv erfasst. "Hoffentlich",
sagte Frank Sarfeld Mitte September nur halb scherzhaft, "bin ich
jetzt nicht verdächtig." Der Bertelsmann-PR-Mann hatte gerade einen
neuen Job innerhalb Deutschlands angetreten - und Anfang September
aufgehört, einmal wöchentlich nach New York zu fliegen.
Der dumme, große Bruder will den einzelnen Bürger nicht "gläsern"
sehen, sondern alle Bürger in einem funkelnagelneuen, wunderschönen
Aquarium. Dass man ihm deshalb vorwirft, er knabbere an den Rechten
der Bürger, verletzt ihn wohl tatsächlich, wie wohl auch Otto Schily,
der missverstandenste Minister im Kabinett, bestätigen könnte.
Dabei ist die große Schnüffel-Innovationswelle doch genau das, was
auch der Bürger will, der Big Brother schließlich an die Macht bringt
und dort hält: Der Bürger will mehr Sicherheit (auch wenn das
Freiheit kostet), er will mehr Observation (solange die anderen
observiert werden).
Rund 68 Prozent aller deutschen Surfer finden es "wichtig" oder "sehr
wichtig", sich auch weiterhin anonym im Web bewegen zu können - sagt
die neueste W3B-Umfrage des Marktforschungsunternehmens Fittkau &
Maaß. Dort kann man dann auch nachlesen, dass rund 71 Prozent aller
Surfer dafür plädieren, dass das Internet künftig "durch Polizei und
Ermittler besser überprüfbar und überwachbar" ist.
Der "Durchschnitt", scheint es, will wie Big Brother ein
aufgeräumtes, sicheres Aquarium, in dem man sich in der Anonymität
des Schwarms weiter lustig bewegen kann. Dass der große Bruder, wenn
er zum Fahnder wird, zunehmend den ganzen Schwarm hopsnehmen wird,
daran wird man sich gewöhnen. Die meisten kommen ja wieder frei.
Außer sie haben was verbrochen. Irgendwas.
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