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[infowar.de] ZEIT, 10.4.03: Mike Davis über die Pentagon-Kriegsszenarien der Zukunft



Infowar.de, http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/liste.html
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Davis, bekannt durch Bücher wie "City of Quartz" ist erfrischend
respektlos:
"Wenn man die ekstatischen Beschreibungen liest, wie zum Beispiel
?Metcalfes Gesetz" Steigerungen der ?Netzwerk-Kraft proportional zum
Quadrat der Anzahl von Knotenpunkten" garantiere, fragt man sich, was
diese Kriegsperfektionisten in ihren Pentagon-Kellergeschossbüros wohl
rauchen."
:-)
RB


DIE ZEIT Nr.16, 10.04.2003 

KRIEG 

Umzingelt von einer unfehlbaren Armee

Das Pentagon arbeitet an der Abschaffung des Zufalls. Die neuen Kriege
sollen geführt werden wie eine Supermarktkette

Von Mike Davis

Das imperiale Washington gleicht mittlerweile dem Berlin der späten
dreißiger Jahre. Es ist eine psychedelische Hauptstadt, in der eine
größenwahnsinnige Halluzination die andere jagt. Wie uns die Vordenker
des Pentagon mitteilen, wird die Invasion des Iraks nicht nur zur
geopolitischen Neuordnung des Nahen Ostens führen, sondern auch ?die
wichtigste Revolution in Militärangelegenheiten (RMA) seit zweihundert
Jahren einleiten".

Folgt man einem Cheftheoretiker dieser Revolution, Admiral William Owen,
dann war der erste Golfkrieg ?noch kein neuer Kriegstyp, sondern der
letzte der alten Kriege". Die Luftkriege über dem Kosovo und Afghanistan
waren ebenfalls nur schwache Kostproben des postmodernen Blitzkriegs,
der gegen das Baath-Regime geführt wird. Anstelle altmodischer,
gestaffelter Schlachten wurde uns eine Simultanwirkung durch ?Schock und
Einschüchterung" versprochen. Aber obwohl sich die Medien in ihren
Vorberichten auf die Science-Fiction-haften technischen Spielereien
konzentrierten - auf thermobarische Bomben, Mikrowellenwaffen,
unbemannte Flugkörper, PackBot-Roboter, Stryker-Kampffahrzeuge -, werden
die wahren radikalen Umwälzungen im Bereich der Organisation und sogar
im Begriff des Kriegs selbst liegen (das zumindest behaupten die
Kriegsperfektionisten).

Die bizarre Sprache des Büros für Truppenumbildung im Pentagon (dem
Nervenzentrum der Revolution) hat ein neuartiges Fabelwesen geboren,
eine Art ?strategisches Ökosystem", auch als ?netzwerkzentrierte
Kriegsführung" (NCW) bekannt. Militaristische Futuristen preisen diese
Technik, die Leben schont, indem sie Zermürbung durch Präzision ersetzt,
als eine ?minimalistische" Form des Kriegs. Tatsächlich aber könnte NCW
den Weg zum Atomkrieg bahnen.

Auf neuen Technologien beruhende militärische ?Revolutionen" kommen und
gehen allerdings schon, seit Luftkriegs-Fanatiker wie Giulio Douhet,
Billy Mitchell und Hugh Trenchard erstmals in den frühen zwanziger
Jahren verkündeten, herkömmliche Armeen und Kampfschiff-Flotten seien
veraltet. Dieses Mal ist die Superwaffe jedoch keine Langstreckenbombe
oder albtraumhafte Wasserstoffbombe, sondern der gewöhnliche PC und
dessen Fähigkeit, mithilfe des Internet eine virtuelle Organisation zu
erzeugen - im ?Gefechtsraum" genauso wie im Marktgeschehen.

Wie alle guten Revolutionäre reagieren die Befürworter von RMA/NCW auf
Krise und Verfall eines alten Regimes. Der erste Golfkrieg wurde zwar
öffentlich als makelloser Sieg der Technik und der Bündnispolitik
gefeiert, doch in Wahrheit gab es unter den amerikanischen Befehlshabern
böse interne Machtkämpfe und potenziell katastrophale Pannen der
Entscheidungsfindung. Befürworter einer High-Tech-Kriegsführung,
beispielsweise von Angriffen mit der ?intelligenten Bombe" auf Bagdads
Infrastruktur, stießen aufs heftigste mit den Traditionalisten der
?Stahlfraktion" zusammen, während der frustrierte Oberbefehlshaber auf
dem Schlachtfeld Norman Schwarzkopf Wutanfälle bekam, die seine Leute
sprachlos machten. Diese Kämpfe wurden später im Pentagon fortgesetzt,
wo die Revolutionäre - größtenteils Oberste, die in diversen
Black-Box-Denkfabriken verbunkert waren - in Andrew Marshall, dem
ehrwürdigen Leiter der Forschungs- und Technikeinschätzung, einen
starken Beschützer fanden. 1993 ließ Marshall (ein Guru sowohl für Dick
Cheney als auch für führende Demokraten) der soeben angetretenen
Clinton-Regierung ein Arbeitspapier zukommen. Darin sprach er die
Warnung aus, die Waffen des Kalten Kriegs, nämlich ?Plattformen" wie
Flugzeugträger der Nimitz-Klasse und schwere Panzerkampfgruppen, würden
angesichts von Präzisionswaffen und Cruise-Missiles bald überholt sein. 

Marshall predigte stattdessen billigere, schnellere, intelligentere
Waffen, die die amerikanische Spitzenstellung in der
Informationstechnologie ausnutzen würden. Allerdings warnte er auch
davor, dass ?Amerika, indem es diese Präzisionswaffen weiter
perfektioniert, seine Feinde dazu zwingt, sich auf terroristische
Aktivitäten zu verlegen, die als Zielscheibe schwer auszumachen sind".
Er hegte Zweifel, ob die erstarrten Befehlshierarchien des Pentagon in
der Lage seien, sich auf die Herausforderungen einer so genannten
asymmetrischen Kriegsführung einzustellen. 

Die Revolutionäre gingen noch weiter. Sie klagten, die Chancen der
Kriegstechnik des 21. Jahrhunderts würden von einer Militärbürokratie
des 19. Jahrhunderts verschenkt werden. Die neuen militärischen
Produktionskräfte brachen also aus ihren archaischen
Produktionsbeziehungen aus: Boshaft setzten die Revolutionäre das
Pentagon und die Unternehmen der ?alten Ökonomie" gleich, die,
?statisch, dumm und kopflastig", in der New Economy zum Untergang
verurteilt seien.

Und ihre Alternative? Wal-Mart, der Einzelhandelsriese mit Sitz in
Arkansas. Es mag etwas eigenartig wirken, eine Ladenkette, die mit
Cornflakes, Jeans und Motorenöl handelt, zum Modell für ein
verschlanktes Pentagon zu machen, aber Marshalls Experten folgten nur
den ausgetretenen Pfaden von Management-Theoretikern, die Wal-Mart
bereits zum Inbegriff eines ?selbst synchronisierten verteilten
Netzwerks mit Transaktionsbewusstsein in Echtzeit" gekürt hatten. Damit
ist gemeint, dass die Registrierkassen der Filialen die Verkaufsdaten
automatisch an die Wal-Mart-Lieferanten übermitteln und der Warenbestand
über ?horizontale" Vernetzungen statt herkömmlich-hierarchisch von der
Zentrale aus geregelt wird. 

Was rauchen diese Männer wohl?

?Wir versuchen im Militär das Gleiche zu tun", schrieben die Autoren von
Netzwerkzentrierte Kriegsführung: Entwicklung und Nutzung
informationeller Überlegenheit, dem 1998er Manifest des RMA/NCW-Lagers,
das die Jahresberichte von Wal-Mart in seiner Bibliografie vermerkt. Im
?Gefechtsraum" würden mobile militärische Akteure - von Computerhackern
bis zu Tarnkappenbomberpiloten - die Gegenstücke zu Wal-Marts
intelligenten Verkaufsstellen bilden. Anstatt von gedruckten Anweisungen
und schwerfälligen Befehlsketten abhängig zu sein, würden diese Akteure
unabhängig vom jeweiligen Dienstbereich ?virtuelle Zusammenarbeit"
praktizieren, um die gebündelte Gewalt auf genau umrissene Ziele zu
konzentrieren. Die Kommandostrukturen würden auf eine Hand voll Generäle
?verflacht", deren Entscheidungsfindung von Beratern am PC unterstützt
würde und die mit ihren ?Schützen" im egalitären Dialog stünden.

Das Sinnbild dafür ist natürlich der Spezialeinheiten-Operator in
Paschtunen-Verkleidung, der seinen Laptop benutzt, um Luftschläge für
eine Taliban-Position anzufordern, die ein anderer Operator mit seinem
Laserkennzeichner hervorhebt. Für Anhänger von NCW ist das allerdings
immer noch reichlich primitiver Stoff. Sie würden das feindliche Terrain
am liebsten durch Tausende von miniaturisierten Robotersensoren und
winzige fliegende Videokameras erkunden lassen, die wie Heuschrecken
?ausschwärmen". Deren Informationen würden zu einem panoptischen Bild
zusammengefügt, das die gewöhnlichen Bodeneinheiten in ihren
Kampffahrzeugen ebenso sehen könnten wie die Vier-Sterne-Generäle in
ihren Befehlsständen in Qatar oder Florida.

In dem Maße, in dem sich das amerikanische ?Gefechtsraum-Bewusstsein"
durch vernetzte Sensoren exponenziell steigert, wird es umgekehrt immer
wichtiger, die entsprechenden (aber veralteten) Kommando- und
Kontroll-Infrastrukturen der Gegenseite durch Präzisionsluftschläge
auszuschalten. Dies bedeutet zwangsläufig ein rücksichtsloses Lahmlegen
ziviler Telekommunikation, der Stromnetze und Autobahnknotenpunkte, was
aus Pentagon-Sicht gar nicht schlecht ist, weil es den für die
psychologische Kriegsführung zuständigen amerikanischen Einheiten
erlaubt, die Bevölkerung zu manipulieren oder, falls nötig, zu
terrorisieren. 

Wenn man die ekstatischen Beschreibungen liest, wie zum Beispiel
?Metcalfes Gesetz" Steigerungen der ?Netzwerk-Kraft proportional zum
Quadrat der Anzahl von Knotenpunkten" garantiere, fragt man sich, was
diese Kriegsperfektionisten in ihren Pentagon-Kellergeschossbüros wohl
rauchen. (Marshall befürwortet, nebenbei gesagt,
verhaltensmodifizierende Drogen, die ?biotechnisch veränderte Soldaten"
hervorbringen sollen.) Die haarsträubendste Behauptung ist, dass Chaos
und Zufälligkeit der Schlacht - Clausewitz' berühmte Ungewissheit aller
Data im Kriege - durch genügend Sensoren, Netzwerke und intelligente
Waffen überwunden werden könnten. Vizeadmiral Arthur Cebrowski, der
Pentagon-Direktor für die Neustrukturierung der Streitkräfte,
halluziniert zum Beispiel, ?falls die technischen Fähigkeiten der Feinde
Amerikas nur so blieben, wie sie heute sind, könnte das US-Militär in
wenigen Jahren praktisch vollkommenes Gefechtsraumwissen erlangen".

Kriegsroboter, die Treppen steigen 

Donald Rumsfeld ist wie Dick Cheney, aber anders als Colin Powell, ein
Anhänger von RMA/NCW-Fantasien (die bereits von der Clinton-Regierung im
Jahr 1998 zur offiziellen Doktrin erhoben wurden). Der zweite Irak-Krieg
ist in ihren Augen die unverzichtbare Bühne, um dem Rest der Welt
Amerikas absolute Überlegenheit zu demonstrieren. Bis heute verfolgt von
der Katastrophe in Mogadischu 1993, als schlecht bewaffnete somalische
Milizen die besten Elitetruppen des Pentagons besiegten, müssen die
Kriegsperfektionisten nun zeigen, dass sich die Vernetzungstechnik in
Straßenkämpfen bewährt. Zu diesem Zweck setzen sie auf eine Kombination
aus Schlachtfeld-Allwissenheit, intelligenten Bomben und neuen Waffen
mit Mikrowellenimpulsen und Übelkeit erregenden Gasen, um die Feinde aus
ihren Häusern und Bunkern zu treiben. Der Gebrauch ?nicht-letaler"
Waffen gegen die Zivilbevölkerung, das kündigte auch die Moskauer
Geiselbefreiung im Oktober 2002 an, ist ein Kriegsverbrechen, das früher
oder später begangen werden wird.

Was aber, wenn das von RMA/NCW erwartete neue Zeitalter der
Kriegsführung nicht so prompt eintritt, wie es verheißen wurde? Was,
wenn der Feind Wege findet, die ausschwärmenden Sensoren, die
Spezialkräfte mit Nachtsichtausrüstung, die kleinen, Treppen steigenden
Roboter und die mit Raketen bestückten Drohnen auszuschalten? Und was,
wenn es irgendein nordkoreanisches Cyberwar-Kommando (beziehungsweise
ein 15 Jahre alter Hacker aus Iowa) schaffen sollte, das ?System der
Systeme" hinter dem Gefechtsraum-Panoptikum im Pentagon zum Absturz zu
bringen? 

Wenn die amerikanischen Gefechtsnetzwerke sich erst einmal auflösen, wie
das im Februar 1991 teilweise geschah, hat das neue System mit seiner
just in time-Logistik und seinen geringen ?Schlachtfeld-Spuren" kaum
Rückhalt in traditionellen militärischen Reserven. Das erklärt, weshalb
das Pentagon keine Gelegenheit auslässt, mit dem ?atomaren Säbel" zu
rasseln.

So wie die Präzisionswaffen die irren Allmachtsfantasien mit ihren
strategischen Bombern von gestern wieder zum Leben erweckt haben, nährt
RMA/NCW die monströsen Fantasien einer funktionalen Einbeziehung von
taktischen Nuklearwaffen in den elektronischen Gefechtsraum. Man sollte
keinesfalls vergessen, dass die USA den Kalten Krieg mit der ständigen
Androhung des ?Ersteinsatzes" von Atomwaffen gegen einen konventionellen
Angriff der Sowjetunion bestritten. Diese Schwelle ist nun herabgesetzt
worden auf einen irakischen Gasangriff, auf nordkoreanische
Raketenstarts oder sogar auf Terroranschläge in amerikanischen Städten. 

Mike Davis, geboren 1946, ist einer der bedeutendsten Stadtsoziologen
der Vereinigten Staaten. Bekannt wurde er mit den Büchern ?City of
Quartz" und ?Ökologie der Angst" 

Aus dem Englischen von Karin Wördemann

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