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[infowar.de] Weltwoche 42.05: Sarkawi Dossier
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- Subject: [infowar.de] Weltwoche 42.05: Sarkawi Dossier
- From: Georg Schoefbaenker <schoefbaenker -!
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- Date: Tue, 25 Oct 2005 11:14:19 +0200
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http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=12309&CategoryID=73
«Es ist einfach, sehr einfach»
Von Urs Gehriger
Sarkawi bewegt sich fliessend von einem Schlachtfeld zum anderen, von der
irakischen Wüste in den Cyberspace. Bush und seine Soldaten sind für den
Terrorfürsten Statisten in einem Drama, in dem er allein Regie führt.
Letzter Teil der Serie.
«Die Antwort ist nein.» Niemand weiss, woher das Zeug kommt. Gebannt schaut
Evan Kohlmann auf den kleinen Bildschirm seines Handys. Darauf läuft ein
Film. Ein Mann liegt im Gras, auf seinem Kopf ein Schuh. Ein Messer kommt
ins Bild. Gurgeln. 20 Sekunden lang. Kohlmann kennt den Film. Er zeigt die
Enthauptung eines CIA-Agenten im Irak, aufgenommen Mitte letzten Jahres.
«Mit solchen Videonachrichten direkt aufs Telefon hat Abu Mussab al-Sarkawi
die letzte Grenze im Propagandakrieg durchbrochen», sagt er. «Damit kann er
jetzt jeden erreichen, jederzeit, rund um die Welt.»
Evan Kohlmann, 26, sitzt in einer Wohnung voller Computer mitten in
Manhattan, «an der Front», wie er sagt. Sein Schlachtfeld: das World Wide
Web. Dutzende von einschlägigen Sites besucht er, «24/7» ? 24 Stunden, 7
Tage pro Woche. Dazwischen ein bisschen Schlaf.
Kohlmann ist eine Art Privatdetektiv, sucht das Internet ab nach den
neusten Spuren von Bin Laden, Sarkawi und Co. Terrorexperte lautet sein
offizieller Titel schlicht. Er hat ein eigenes Informationsbüro,
Globalterroralert, mit zwei Mitarbeitern. «Unabhängig», betont er.
«Manchmal rufen sie von der CIA oder dem Pentagon an und fragen nach meiner
Meinung.» Whizzkid nennen ihn Berufskollegen, einen gewieften Jungen. Mit
16 lernte er Arabisch, mit 18 studierte er Osama Bin Ladens Netzwerk, mit
23 schrieb er ein Buch: «Al-Qaida's Jihad in Europe». ? «Ein Standardwerk»,
lobt Richard Clarke, Amerikas ehemaliger Anti-Terror-Chef.
«Hier ist es», Kohlmann dreht den Lautsprecher auf. «Alle Religion wird für
Allah sein» heisst der Film, eine 46-minütige Kriegspropaganda,
professionell produziert, unterlegt mit komplizierter Grafik und
martialischen Gesängen. Kohlmann spult. «Hier, das sind sie.» Eine Gruppe
junger Männer. Locker sitzen sie in einem Zimmer, scherzen, lachen. Sie
sind die einzigen Krieger im Video ohne Maske: «Es sind
Selbstmordattentäter beim Training», sagt Kohlmann. Sie lachen, obwohl sie
wissen, dass sie in den Tod gehen. «Sie lieben den Tod wie ihre Gegner das
Leben. Das ist das Geheimnis der Stärke Sarkawis.» Er zählt Hunderte
Freiwillige in seinen Reihen. Und es werden täglich mehr. «Der Grund liegt
gleich hier», Kohlmann tippt auf den Bildschirm, «im WWW.»
Al-Qaida ist die erste Terrororganisation, die den Kampf vom Boden in den
Cyberspace ausgeweitet hat. Und an der Spitze steht Abu Mussab al-Sarkawi.
Die Soldaten, die er in den digitalen Kampf schickt, sind jung, wenig über
zwanzig. Während ihre Väter in den achtziger Jahren in den Dschihad nach
Afghanistan reisten, sitzen sie bequem im Internetcafé. Statt der
Kalaschnikow tragen sie Laptops, Handycams und DVDs.
Kaum ein grösserer Anschlag im Irak, der nicht von einer Kamera
aufgezeichnet wird. Wenig später steht die «Reportage» bereits im Netz. Der
Kämpfer rennt mit dem Film zu einem Computer und lädt ihn auf eine der
Dutzenden von Dschihad-Websites. «Für einen Clip von 15 Sekunden dauert der
ganze Ladeprozess eine halbe Stunde», sagt Kohlmann, «mehr nicht.»
Kohlmann vergleicht die Sarkawi-Clips mit Werbefilmen der US-Armee, mit
denen Rekrutierungsoffiziere in amerikanischen Highschools hausieren gehen.
Hier wie dort wird Krieg als Abenteuer und Dienst für die Gesellschaft
angepriesen. Die Amerikaner mit Flugzeugträgern, die in den Sonnenuntergang
fahren, waghalsigen Kommandoaktionen und stolzen Offizieren in steifen
Uniformen und gewichsten Stiefeln. Sarkawi lässt seine Märtyrer in die Luft
fliegen, begleitet von martialischen Gesängen und in tiefem Vibrato
gesprochenen Koranversen. Ein Teil des Propagandamaterials wird in
Saudi-Arabien produziert. Aber den Produzenten und Webmastern sind keine
geografischen Grenzen gesetzt. Sie können irgendwo sitzen, im Nahen Osten,
in Europa, Asien. «Das Groteske allerdings ist», sagt Kohlmann, «die Server
der Terror-Websites sind bei uns in Amerika, in North Carolina zum Beispiel.»
Die westliche Gesellschaft sei weit davon entfernt, das neue Phänomen zu
begreifen, ist Kohlmann überzeugt. Drei massive Hindernisse gäbe es zu
bewältigen. Erstens sei das ganze Propagandamaterial auf Arabisch, «eine
Sprache, die hier kaum jemand beherrscht». Zweitens verstehe der Westen die
Mentalität und Kultur der Islamisten kaum. Drittens, «und das ist eine
echte Tragödie», gebe es nur wenige Experten, die sich mit den Techniken
des Cyberwar auskennen. «Natürlich gibt es überall clevere junge
Technikfreaks, aber ausgerechnet in der US-Regierung fehlen solche Leute.»
Öffentliche Folter
Wie oft in seiner Karriere hat Sarkawi rasch gelernt. Innert weniger Monate
stieg er auf vom unbekannten Guerillero zum wendigen
Internet-Dschihadisten. Angefangen hat es am 11. April 2004. An diesem Tag
wird zum ersten Mal ein Videoclip im Netz gesichtet, der das Signet
Sarkawis trägt. Das Dokument hat den Titel «Die Helden von Falludscha» und
zeigt mehrere schwarzmaskierte Männer, die Sprengsätze am Rand einer
Strasse platzieren. Kurz danach fährt ein amerikanischer Geländewagen auf
den Sprengsatz und explodiert. Am 25. April folgt das erste
Internet-Communiqué, in dem Sarkawi als Urheber für einen Anschlag im
südirakischen Basra zeichnet. «Wir haben uns entschlossen, das Banner des
Dschihad zu hissen», steht dort. «Bekämpft sie [die Kreuzfahrer], bei
Allah, wir foltern sie vor euren Augen.»
Dann, am 11. Mai, kommt der Film, welcher der Welt den Atem nimmt: die
Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg. Das Echo auf Sarkawis
Internetauftritte ist überwältigend. Über Nacht werden seine Dokumente
kopiert und auf Hunderten von Websites weiterverbreitet. Nach der zweiten
gefilmten Enthauptung ? wieder ist das Opfer ein Amerikaner, der Ingenieur
Eugene Armstrong ? adelt die Al-Qaida-Zentrale über ihr Online-Magazin in
Saudi-Arabien Sarkawi zum «Scheich der Schlächter».
Sarkawis Auftritt im Internet erfüllt einen primären Zweck: Kommunikation.
Einer der meistgesuchten Männer der Welt, der zeitlebens nie einem
Journalisten ein Interview gegeben hat, steht auf seinen Websites allein im
Rampenlicht. Er allein diktiert.
Im Vergleich dazu hatten es die westeuropäischen Demokratien im Kampf gegen
frühere Terrororganisationen einfach. Sie entwaffneten sie, indem sie ihre
Botschaften sabotierten. In Grossbritannien wurde die Stimme des
IRA-Politikers Gerry Adams in Nachrichten ausgeblendet, um ihn an der
Verbreitung seiner Ideologie zu hindern. In Italien wurden die Roten
Brigaden bisweilen völlig kaltgestellt, indem man ihre Statements der
Öffentlichkeit vorenthielt.
Sarkawi hingegen hat seine eigene Bühne, die er nach Belieben ausstaffiert
und auf der er Stücke gibt, wie und mit wem es ihm gefällt. Die Geiseln,
der amerikanische Präsident, die europäischen Staatschefs und 155000
internationale Truppen im Irak ? sie alle degradiert Sarkawi zu Statisten
in einem sorgfältig inszenierten Drama. Sein Publikum ? die westliche
Öffentlichkeit und 1,3 Milliarden Muslime ? schockiert und begeistert er
nach Belieben.
Sarkawi spielt seine Rolle sehr geschickt. Er mimt den Rächer der
Unterdrückten, der die allmächtigen Amerikaner herausfordert und die
Muslime beschützt. «Was dich angeht, Bush, du römischer Hund, mach dich auf
etwas gefasst, was dir wehtun wird, und rechne mit schweren Zeiten», warnte
er Washington, bevor er Nicholas Berg den Kopf abschnitt. Und die Exekution
von Ken Bigley, einem älteren britischen Ingenieur, präsentierte er als
heroische Antwort auf die angebliche Verhaftung und Misshandlung von
muslimischen Frauen durch nichtmuslimische Männer im Irak und sonst wo auf
der ganzen Welt. Ein Schlächter in der Pose des Zorro.
Und seine Anhänger bekommen nicht genug. In den Foren der Websites fordern
Besucher immer neue, blutigere Clips. «Den habt ihr zu schnell
geschnitten», steht da. Und: «Scheich Abu Mussab, wann kommt der nächste?»
«Die Entwicklung überrollt uns», sagt Terrorexperte Kohlmann. «Unternehmen
können wir wenig. Eine Site sperren? Am nächsten Tag tauchen zwei neue auf,
unter neuer Adresse.» Unter Sarkawis Leuten gibt es solche, die sich um die
Webseiten kümmern. Wenn eine ihrer Seiten blockiert ist, schicken sie eine
Nachricht mit einer Alternative, wo man die gleichen Inhalte findet, mit
dem gleichen Usernamen und dem gleichen Passwort meldet man sich dort an.
Und wenn sich ein Problem beim Herunterladen eines Videofilmes ergibt,
fragt man einen Spezialisten, der sich «Terrorist 007» nennt. Er weist
einem eine andere Website zu. Über die Identität von «Terrorist 007» ist
nichts bekannt ? ausser dass er perfekt Englisch spricht. Und durchs Web
spaziert, als sei es sein eigener Garten. Einmal hackte er sich in ein
File-Directory auf der Website des Bundesstaates Arkansas ein, die er
kurzerhand für seine Zwecke missbrauchte und auf der er eine Reihe
Köpfungsvideos deponierte ? für alle zugänglich, bereit zum Herunterladen.
Das Netz ist keine Einbahnstrasse. Stark frequentiert sind Foren, in denen
Ideologie, Strategie und die jüngsten Angriffe diskutiert werden. In
Chat-Rooms kommunizieren ganze Gruppen miteinander. Am beliebtesten ist
«Paltalk», ein kostenloser Service, der Dutzende von Chat-Rooms rund um die
ganze Welt miteinander verbindet. Da vergleichen alte Afghanistan-Veteranen
ihre Front-Erlebnisse mit den jüngsten Ereignissen im Irak. Verwandte von
arabi- schen Freiwilligen im Irak berichten über die «Martyrien» ihrer
Söhne und Neffen. Und britische Islamisten preisen die «cleverness» von Abu
Mussab al-Sarqawi.
300 «Bräute» in drei Monaten
Es ist nicht das erste Mal, dass Sarkawi in Europa seine Spuren hinterlässt.
28. Dezember 2001: In der Wohnung von Schadi Abdullah klingelt das Telefon.
«Möge Allah euch beschützen», sagt eine Stimme. «Gibt es was Neues?»
Abdullah jauchzt vor Freude, als er die Stimme hört.
«So Allah will, haben wir eine Braut aus Marokko gekauft. Sie ist eine sehr
gute Braut, ich habe sie selbst gesehen.»
«Aber du darfst sie doch gar nicht sehen», scherzt die Stimme.
«Wie?» Abdullah ist verwirrt.
«Es ist doch nicht erlaubt, dass du sie siehst! Wieso machst du so etwas ?
meine Braut anschauen?»
Schadi Abdullah ist Jordanier, ehemaliger Leibwächter von Osama Bin Laden
und Asylbewerber in Deutschland. Die Stimme am Telefon, die Abdullah derart
in Verzückung bringt, gehört Abu Mussab al-Sarkawi. Das Taliban-Regime ist
gefallen. Sarkawi ist auf der Flucht irgendwo im Iran. Fast täglich
telefoniert er nach Deutschland. Er spricht in Codes. Die «Braut», die man
ihm in Marokko besorgt hat, ist ein Reisepass. Sarkawi braucht noch viele
«Bräute» für seine Kämpfer. Die Islamisten in Deutschland liefern: 300
«Bräute» lassen sie innert dreier Monate in einer Fälscherwerkstatt im
dänischen Horsholm herstellen.
Doch offenbar geht es um mehr als Reisehilfe für die Terrornomaden. In
seinen Telefonaten spricht Sarkawi von «schwarzen Pillen», «russischen
Äpfeln», «Honig» und von «kleinen Mädchen». Beim Bundeskriminalamt (BKA)
herrscht Nervosität. Seit Monaten schneidet man die Gespräche zwischen
Sarkawi und seinen Kollegen in Deutschland mit. Sie gehören der sogenannten
Tawhid-Gruppe an. Was mit den Codes gemeint ist, weiss man nicht. Als sich
Abdullah nach einem Telefonat auf den Weg nach Berlin macht, steigt die
Spannung. Per «Zellenkennung» von Abdullahs Handy eruiert das BKA seinen
Standort: die Fasanenstrasse. Dort steht das jüdische Gemeindehaus. Höchste
Alarmstufe.
Sarkawi taucht in den folgenden Wochen zeitweise im Nordirak auf, steht
aber weiterhin in Kontakt mit seiner deutschen Zelle.
Am 2. April 2002 ruft er wieder bei Abdullah an. «So Allah will, alles ist
gut», sagt der. Doch er merkt schnell, dass etwas im Argen liegt. «Es läuft
nicht so, wie manche möchten. Wir bestellen Sachen, Obst oder das Gleiche,
aber sie verlangen hohe Preise oder halten mich hin.»
«Hör zu, hör zu», herrscht ihn Sarkawi an. «Du sollst dich nicht darum
kümmern, ob was teuer ist oder nicht.»
«Wir haben ein paar Sachen erreicht, aber nicht das Stumme. Das haben wir
noch nicht, wir benötigen das Stumme, verstehst du. Sie haben mir eins
gebracht. Aber das schafft Probleme, ich brauche das andere.»
«Warum bleibst du nicht dabei und nimmst die schwarze Pille?», fragt Sarkawi.
«Wir haben daran gedacht, aber das Medikament, das damit benutzt wird, ich
meine Honig, ist nicht vorhanden.»
«Es ist sehr einfach, sehr einfach, sehr einfach.» Sarkawi verliert die
Geduld. «Hör zu, hör zu, ihr müsst euch zusammenreissen, ehrlich. In diesen
Zeiten, bei Allah.»
«Wir bemühen uns, bei Allah, wir bemühen uns», versichert Abdullah.
Schliesslich fragt Sarkawi, ob Abdullah die Sache nicht allein ausführen
wolle. «So Allah will, jetzt verstehe ich.»
«Dies ist eine grosse Chance», sagt Sarkawi, «eine grosse Chance.»
Verwirrung und Sorge beim BKA. Die Vehemenz, mit der Sarkawi offensichtlich
die baldige Ausübung einer Aktion fordert, beunruhigt die Beamten.
Abgehörten Telefonaten glauben die BKA-Beamten entnehmen zu können, dass
etwas für den 23. April 2002 geplant ist. An diesem Tag werden in einer
bundesweiten Aktion sieben Personen festgenommen, allen voran Schadi Abdullah.
Abdullah packt aus. Der ehemalige Leibwächter Bin Ladens ist die Quelle,
von der Fahnder träumen. Er wird zum Kronzeugen. Die Verhöre legen den
Schluss nahe, dass die deutsche Tawhid-Zelle, die ursprünglich für die
logistische Unterstützung gedacht war, sich nach und nach in eine operative
Terrorgruppe verwandelt hat. Abdullahs Aussagen vermitteln den Fahndern
eine Vorstellung von Sarkawis Netzwerk in Europa. In Deutschland reicht es
von Wiesbaden nach Berlin, Hamburg und München. Hilfe steht auch in
Grossbritannien und Tschechien in Form von einsatzfähigen Terroristen
bereit. Die deutsche Gruppe schleust über Handelsgesellschaften oder
Nichtregierungsorganisationen Gelder nach Afghanistan, später zu Sarkawi in
den Iran.
Die Fäden des Netzes ziehen sich über ganz Europa. In Italien, Spanien,
Frankreich, Grossbritannien werden Zellen zerschlagen, die mit Sarkawi in
Verbindung stehen. In London verhaftet man eine Schlüsselfigur: Abu Katada,
den geistigen Führer von al-Tawhid, von Fahndern oft «Bin Ladens
Statthalter in Europa» genannt.
Lange bevor er im Irak Schlagzeilen macht, ist Sarkawi bei den europäischen
Ermittlern auf dem Radar. Doch er gibt Rätsel auf, ist «ein schwarzes
Pferd», wie sich ein Fahnder ausdrückt. Gerüchte kursieren, Sarkawi habe in
seinem Trainingscamp in Herat mit Chemiewaffen laboriert. Unter Europas
Geheimdiensten geht die Angst um: Sarkawi könnte der Big Bang gelingen, ein
Anschlag mit chemischen Giftstoffen. Im Januar 2003 werden in Spanien,
Frankreich und Grossbritannien Dutzende Nordafrikaner verhaftet. Sie sollen
Rizin und andere chemi- sche Waffen präpariert haben.
Der damalige US-Aussenminister Colin Powell will es mit Bestimmtheit
wissen: «Das Rizin, das jetzt in Europa gefunden wurde, stammt aus dem
Irak», behauptet er während seines berüchtigten Auftrittes vor der
Uno-Vollversammlung am 5. Februar 2003, bei dem er den Grundstein für die
Irak-Invasion legt. «Als unsere Koalition die Taliban vertrieb, half das
Netzwerk von Sarkawi, ein weiteres Gift- und Sprengstofflager aufzubauen,
und dieses Lager ist im Nordosten Iraks.» Zum «Beweis» lässt Powell im
Uno-Plenarsaal Luftaufnahmen vom angeblichen Labor einblenden.
Nach Powells Uno-Auftritt wird Sarkawi in der ganzen Welt bekannt. Er sei
das Bindeglied zwischen Saddam Hussein und Osama Bin Laden, behauptet der
US-Aussenminister. Viele europäische Geheimdienstler, die die Spuren
Sarkawis seit längerem verfolgen, reagieren mit Skepsis. «Diesbezügliche
Hinweise konnten nicht festgestellt werden», notiert ein BKA-Beamter in
seine Ermittlungsakte. Offiziell sagt dies noch niemand. Plötzlich sieht
die Welt in Sarkawi den Meisterterroristen. Wo immer eine Terrorzelle
ausgehoben wird, taucht sein Name auf, selbst wenn die angeblichen
Verbindungen schleierhaft sind. Als in Madrid am 11. März 2004 Pendlerzüge
in die Luft fliegen, stellt der Untersuchungsrichter die These auf: Sarkawi
ist der Drahtzieher. Beweise fehlen, die Indizien sind schwach.
Fakten und Fiktionen vermischen sich. Sarkawi wächst zum Mythos. Einmal
wird er im georgischen Pankisital gesehen, dann soll er in Europa unterwegs
sein, in Syrien, Iran und Jordanien. Er soll bereits unter dem Schutz
Saddam Husseins im Irak aktiv gewesen sein, in welcher Sache genau, ist
niemandem klar. Laut US-Aussenminister Powell hat Sarkawi sogar ein Bein
verloren und sich deswegen in einem Spital Saddam Husseins in Bagdad
pflegen lassen. Die Welt rätselt. Wie viele Beine hat er nun? «Nicht mehr
als drei», scherzt ein Journalist, «und nicht weniger als keins ? vielleicht.»
Wer keinen Einblick in die Geheimdienstdossiers hat, verliert schnell den
Überblick. Und selbst den europäischen Ermittlern erscheinen ihre Versuche,
dem Netzwerk Sarkawis und seinen chemischen Terrorplänen auf die Spur zu
kommen, «wie ein Stochern im Nebel», klagt ein Fahnder.
Fest steht, dass Sarkawi ohne Irak-Invasion niemals zu einem der
meistgesuchten Terroristen der Welt aufgestiegen wäre. Möglich gemacht hat
es Colin Powell, indem er ihn zum leuchtendsten Stern am
Terroristen-Firmament stilisierte. Und der Krieg sowie das amerikanische
Missmanagement im befreiten Irak gaben Sarkawi das Terrain, auf dem er sich
nun profiliert.
In Europa reibt man sich heute die Augen. Zwei Jahre nach der Invasion im
Irak erweist sich der Giftalarm als Fehlalarm. In Spanien sind alle
Verdächtigen auf freien Fuss gesetzt. Die angeblichen Giftstoffe waren
Bleichungs- und Waschmittel. In Frankreich wurde die Anklage fallen
gelassen, als die Rizinproben sich als Weizenkeime herausstellten. Und in
London stellt das zuständige Gericht klar, dass die verdächtigen Stoffe
manipuliert worden waren. Die Regierung entschuldigte sich und begründete
die Panne mit einem Irrtum eines Angestellten.
Die Gefahr von Sarkawi indessen ist längst nicht gebannt. Der Irak-Krieg
hat sie erst recht entfacht. Im Sommer 2003 beobachten jordanische wie
westliche Geheimdienste, wie ? vor allem aus und über Europa ? Sarkawis
Anhänger via Teheran in den Irak reisen, um dort im heiligen Krieg zu
kämpfen. Keine Einbahnstrasse, wie sich bald herausstellt. Aus dem Irak
ziehen Kämpfer zurück nach Europa.
«Der Aufstand im Irak kreiert einen neuen Typus islamistischer Militanter»,
kommt eine vertrauliche CIA-Studie zum Schluss, die im vergangenen Juni
durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangte. Ihre Fähigkeiten
seien gefährlicher als diejenigen der Afghanistan-Veteranen der achtziger
Jahre. «Die Dschihadisten, die überleben, werden den Irak als
besttrainierte Grossstadt-Krieger verlassen», sagt CIA-Chef Porter Goss.
«Die Gefahr wird wachsen, sobald diese Krieger den Irak verlassen und in
ihre arabischen Heimatländer oder nach Europa zurückkehren, wo viele von
ihnen im Exil wohnten oder als Kinder von Emigranten aufwuchsen.»
Einmal mehr versetzt Sarkawi die europäischen Sicherheitsdienste in
Nervosität. Minutiös versuchen sie herauszufinden, wie viele Muslime sich
von der Propaganda anstecken liessen, wer von ihnen im Irak gefallen ist
und wer sich wieder auf dem Weg zurück nach Europa befindet. In Frankreich
hat man etwa zwanzig Irak-Reisende gezählt, die Hälfte von ihnen ist
wahrscheinlich im Kampf umgekommen. Europaweit sollen rund zweihundert
junge Muslime in den Irak aufgebrochen sein. Nach jüngsten Angaben von
Terrorexperten hat Sarkawi in Grossbritannien ein Rekrutierungsnetzwerk
gegründet. Die neue Gruppe ? Ansar al-Fath (Partisanen des Sieges) ? biete
ausländischen Freiwilligen logistische Hilfe und rekrutiere neue Mitglieder
über das Internet, sagen Sicherheitsexperten. Siebzig Männer aus
Grossbritannien seien in den letzten zwei Jahren in den Dschihad gezogen,
einige von ihnen «durchtrainiert» wieder zurückgekehrt. Keine riesige Zahl.
Doch es reicht, wenn einer von ihnen eine lokale Zelle aufbaut und sein im
Irak erlerntes Handwerk auf europäischem Boden umsetzt.
Und was sind Sarkawis eigene Pläne? Wird er seinen Terror aus dem Irak
hinaustragen, nach Jordanien, Syrien, Israel? Er lässt sich selten in die
Karten blicken. Seine Pläne müssen an seinen Taten abgelesen werden: Am 29.
Februar 2004 stirbt Umm Sayel, seine Mutter. «Sei geduldig, liebe Mutter»,
hatte er ihr vor Jahren aus dem Gefängnis geschrieben. «Wenn wir uns in
dieser Welt nicht mehr sehen, dann im Himmel.»
Wochen sind seit ihrer Beerdigung vergangen. Eine dunkle Gestalt geht durch
die Gassen. In eine Koranschule. Sie bleibt eine Nacht. Zwei. Drei. Doch
Abu Mussab al-Sarkawi geht nicht auf den Friedhof. Seine Frau und seine
vier Kinder in Sarka besucht er nicht. Er ist allein. Noch einmal zu Hause,
in seiner Stadt. Dann kehrt er zurück an die Front. Einen Monat später ist
seine Familie verschwunden. Im Irak, heisst es.
In einem Brief an Bin Laden schreibt er: «Wenn der Dschihad im Irak
scheitert, wird das Kalifat nie entstehen. Dann wird die Nation erwürgt,
unser Volk entwürdigt, und Sanktionen werden auferlegt für immer.»
Alles deutet darauf hin, dass er im Irak die Entscheidung sucht. Gemäss
seinen zahlreichen Statements wird er alles daran setzen, die Schiiten in
einen Bürgerkrieg zu drängen. Einen von Schiiten dominierten Staat wird er
nach Kräften sabotieren. Doch selbst wenn er seine Ziele erreichen sollte
und den Irak ins Chaos stösst, wird er sein Fernziel, die Errichtung eines
Kalifats, kaum erreichen. Dieses ist eine Erfindung der Sunniten für
Sunniten. Im Irak, wo die Schiiten sechzig Prozent der Bevölkerung
ausmachen, fehlt allein schon die demografische Masse, die Sarkawis Ziel
unterstützen könnte. Da bleibt für seinen Traum nicht viel übrig. Ein
Emirat in Teilen des sunnitischen Gürtels vielleicht, mehr wird er kaum
erreichen.
Sein wichtigstes Ziel hat Sarkawi bereits erreicht: den Sarkawi-Effekt. Er
wirkt sich im Kampf und auf religiösem Gebiet aus. Viele radikale
Islamisten richten sich nach seinem Tun und Treiben im Irak aus. Für die
Kämpfer ist er ein vorbildlicher Anführer. Enthauptungen in Afghanistan und
Thailand sind eindeutig auf dieses «Vorbild» zurückzuführen. Für die
radikalen Glaubensführer ist er derjenige, der den Geist des Dschihad
weiterträgt, der bis dahin von Bin Laden verkörpert wurde.
Sarkawi ist das Gegenteil von Bin Laden. Kein Sohn aus feinem Hause.
Ungebildet. Rau. Impulsiv. Dennoch könnte er dem saudischen Terrorfürsten
innert kurzer Zeit den Rang ablaufen. Mit Gewalt, aber auch mit seinem
scharfen Instinkt für Propaganda.
Wird er Nachfolger Bin Ladens? Im Moment scheinen sich beide zu ergänzen.
Bin Laden ist der geistige Führer und sorgt für die globale Strategie,
Sarkawi ist der General an der Front. Doch der unbeugsame Sarkawi könnte es
auf einen Machtkampf ankommen lassen. Sarkawi weiss die Geschichte auf
seiner Seite. Die Dynamik der Revolution begünstigt immer die radikalsten
Fraktionen ? die Jakobiner, nicht die Girondisten; die Bolschewiken, nicht
die Menschewiken. In diesem Sinne könnte Sarkawi der Mann der Zukunft sein.
Die Dokumente
<http://www.globalterroralert.com/heroesoffallujah-web.wmv>«Die Helden von
Falludscha», Erstes Video einer Sarkawi-Gruppe, das auf dem Internet
erschienen ist, April 2004. Quelle: www.globalterroralert.com
<http://switch5.castup.net/frames/20041020_MemriTV_Popup/video_480x360.asp?ClipMediaID=81888&ak=null>Sout
al-Khilafa, Mitte September 2005, Online-Wochenschau der al-Qaida, erste
Ausgabe, Mitte September 2005 Quelle: www.memritv.org.
«Die Invasion der Immigranten und ihrer Gefolgschaft»:
<http://www.weltwoche.ch/sarkawi/resistance2.avi>Sarkawi-Anschlag auf
US-Truppenbasis in Ramadi
(avi-Fomrat, 351 MB, April 2004, Quelle: alfafe-net - eine von Sarkawis
Websites