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[infowar.de] Weltwoche 42.05: Sarkawi Dossier



http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=12309&CategoryID=73

«Es ist einfach, sehr einfach»

Von Urs  Gehriger

Sarkawi bewegt sich fliessend von einem Schlachtfeld zum anderen, von der irakischen Wüste in den Cyberspace. Bush und seine Soldaten sind für den Terrorfürsten Statisten in einem Drama, in dem er allein Regie führt. Letzter Teil der Serie.
«Die Antwort ist nein.» Niemand weiss, woher das Zeug kommt. Gebannt schaut Evan Kohlmann auf den kleinen Bildschirm seines Handys. Darauf läuft ein Film. Ein Mann liegt im Gras, auf seinem Kopf ein Schuh. Ein Messer kommt ins Bild. Gurgeln. 20 Sekunden lang. Kohlmann kennt den Film. Er zeigt die Enthauptung eines CIA-Agenten im Irak, aufgenommen Mitte letzten Jahres. «Mit solchen Videonachrichten direkt aufs Telefon hat Abu Mussab al-Sarkawi die letzte Grenze im Propagandakrieg durchbrochen», sagt er. «Damit kann er jetzt jeden erreichen, jederzeit, rund um die Welt.»


Evan Kohlmann, 26, sitzt in einer Wohnung voller Computer mitten in Manhattan, «an der Front», wie er sagt. Sein Schlachtfeld: das World Wide Web. Dutzende von einschlägigen Sites besucht er, «24/7» ? 24 Stunden, 7 Tage pro Woche. Dazwischen ein bisschen Schlaf.

Kohlmann ist eine Art Privatdetektiv, sucht das Internet ab nach den neusten Spuren von Bin Laden, Sarkawi und Co. Terrorexperte lautet sein offizieller Titel schlicht. Er hat ein eigenes Informationsbüro, Globalterroralert, mit zwei Mitarbeitern. «Unabhängig», betont er. «Manchmal rufen sie von der CIA oder dem Pentagon an und fragen nach meiner Meinung.» Whizzkid nennen ihn Berufskollegen, einen gewieften Jungen. Mit 16 lernte er Arabisch, mit 18 studierte er Osama Bin Ladens Netzwerk, mit 23 schrieb er ein Buch: «Al-Qaida's Jihad in Europe». ? «Ein Standardwerk», lobt Richard Clarke, Amerikas ehemaliger Anti-Terror-Chef.

«Hier ist es», Kohlmann dreht den Lautsprecher auf. «Alle Religion wird für Allah sein» heisst der Film, eine 46-minütige Kriegspropaganda, professionell produziert, unterlegt mit komplizierter Grafik und martialischen Gesängen. Kohlmann spult. «Hier, das sind sie.» Eine Gruppe junger Männer. Locker sitzen sie in einem Zimmer, scherzen, lachen. Sie sind die einzigen Krieger im Video ohne Maske: «Es sind Selbstmordattentäter beim Training», sagt Kohlmann. Sie lachen, obwohl sie wissen, dass sie in den Tod gehen. «Sie lieben den Tod wie ihre Gegner das Leben. Das ist das Geheimnis der Stärke Sarkawis.» Er zählt Hunderte Freiwillige in seinen Reihen. Und es werden täglich mehr. «Der Grund liegt gleich hier», Kohlmann tippt auf den Bildschirm, «im WWW.»

Al-Qaida ist die erste Terrororganisation, die den Kampf vom Boden in den Cyberspace ausgeweitet hat. Und an der Spitze steht Abu Mussab al-Sarkawi. Die Soldaten, die er in den digitalen Kampf schickt, sind jung, wenig über zwanzig. Während ihre Väter in den achtziger Jahren in den Dschihad nach Afghanistan reisten, sitzen sie bequem im Internetcafé. Statt der Kalaschnikow tragen sie Laptops, Handycams und DVDs.

Kaum ein grösserer Anschlag im Irak, der nicht von einer Kamera aufgezeichnet wird. Wenig später steht die «Reportage» bereits im Netz. Der Kämpfer rennt mit dem Film zu einem Computer und lädt ihn auf eine der Dutzenden von Dschihad-Websites. «Für einen Clip von 15 Sekunden dauert der ganze Ladeprozess eine halbe Stunde», sagt Kohlmann, «mehr nicht.»

Kohlmann vergleicht die Sarkawi-Clips mit Werbefilmen der US-Armee, mit denen Rekrutierungsoffiziere in amerikanischen Highschools hausieren gehen. Hier wie dort wird Krieg als Abenteuer und Dienst für die Gesellschaft angepriesen. Die Amerikaner mit Flugzeugträgern, die in den Sonnenuntergang fahren, waghalsigen Kommandoaktionen und stolzen Offizieren in steifen Uniformen und gewichsten Stiefeln. Sarkawi lässt seine Märtyrer in die Luft fliegen, begleitet von martialischen Gesängen und in tiefem Vibrato gesprochenen Koranversen. Ein Teil des Propagandamaterials wird in Saudi-Arabien produziert. Aber den Produzenten und Webmastern sind keine geografischen Grenzen gesetzt. Sie können irgendwo sitzen, im Nahen Osten, in Europa, Asien. «Das Groteske allerdings ist», sagt Kohlmann, «die Server der Terror-Websites sind bei uns in Amerika, in North Carolina zum Beispiel.»

Die westliche Gesellschaft sei weit davon entfernt, das neue Phänomen zu begreifen, ist Kohlmann überzeugt. Drei massive Hindernisse gäbe es zu bewältigen. Erstens sei das ganze Propagandamaterial auf Arabisch, «eine Sprache, die hier kaum jemand beherrscht». Zweitens verstehe der Westen die Mentalität und Kultur der Islamisten kaum. Drittens, «und das ist eine echte Tragödie», gebe es nur wenige Experten, die sich mit den Techniken des Cyberwar auskennen. «Natürlich gibt es überall clevere junge Technikfreaks, aber ausgerechnet in der US-Regierung fehlen solche Leute.»




Öffentliche Folter

Wie oft in seiner Karriere hat Sarkawi rasch gelernt. Innert weniger Monate stieg er auf vom unbekannten Guerillero zum wendigen Internet-Dschihadisten. Angefangen hat es am 11. April 2004. An diesem Tag wird zum ersten Mal ein Videoclip im Netz gesichtet, der das Signet Sarkawis trägt. Das Dokument hat den Titel «Die Helden von Falludscha» und zeigt mehrere schwarzmaskierte Männer, die Sprengsätze am Rand einer Strasse platzieren. Kurz danach fährt ein amerikanischer Geländewagen auf den Sprengsatz und explodiert. Am 25. April folgt das erste Internet-Communiqué, in dem Sarkawi als Urheber für einen Anschlag im südirakischen Basra zeichnet. «Wir haben uns entschlossen, das Banner des Dschihad zu hissen», steht dort. «Bekämpft sie [die Kreuzfahrer], bei Allah, wir foltern sie vor euren Augen.»

Dann, am 11. Mai, kommt der Film, welcher der Welt den Atem nimmt: die Enthauptung des Amerikaners Nicholas Berg. Das Echo auf Sarkawis Internetauftritte ist überwältigend. Über Nacht werden seine Dokumente kopiert und auf Hunderten von Websites weiterverbreitet. Nach der zweiten gefilmten Enthauptung ? wieder ist das Opfer ein Amerikaner, der Ingenieur Eugene Armstrong ? adelt die Al-Qaida-Zentrale über ihr Online-Magazin in Saudi-Arabien Sarkawi zum «Scheich der Schlächter».

Sarkawis Auftritt im Internet erfüllt einen primären Zweck: Kommunikation. Einer der meistgesuchten Männer der Welt, der zeitlebens nie einem Journalisten ein Interview gegeben hat, steht auf seinen Websites allein im Rampenlicht. Er allein diktiert.

Im Vergleich dazu hatten es die westeuropäischen Demokratien im Kampf gegen frühere Terrororganisationen einfach. Sie entwaffneten sie, indem sie ihre Botschaften sabotierten. In Grossbritannien wurde die Stimme des IRA-Politikers Gerry Adams in Nachrichten ausgeblendet, um ihn an der Verbreitung seiner Ideologie zu hindern. In Italien wurden die Roten Brigaden bisweilen völlig kaltgestellt, indem man ihre Statements der Öffentlichkeit vorenthielt.

Sarkawi hingegen hat seine eigene Bühne, die er nach Belieben ausstaffiert und auf der er Stücke gibt, wie und mit wem es ihm gefällt. Die Geiseln, der amerikanische Präsident, die europäischen Staatschefs und 155000 internationale Truppen im Irak ? sie alle degradiert Sarkawi zu Statisten in einem sorgfältig inszenierten Drama. Sein Publikum ? die westliche Öffentlichkeit und 1,3 Milliarden Muslime ? schockiert und begeistert er nach Belieben.

Sarkawi spielt seine Rolle sehr geschickt. Er mimt den Rächer der Unterdrückten, der die allmächtigen Amerikaner herausfordert und die Muslime beschützt. «Was dich angeht, Bush, du römischer Hund, mach dich auf etwas gefasst, was dir wehtun wird, und rechne mit schweren Zeiten», warnte er Washington, bevor er Nicholas Berg den Kopf abschnitt. Und die Exekution von Ken Bigley, einem älteren britischen Ingenieur, präsentierte er als heroische Antwort auf die angebliche Verhaftung und Misshandlung von muslimischen Frauen durch nichtmuslimische Männer im Irak und sonst wo auf der ganzen Welt. Ein Schlächter in der Pose des Zorro.

Und seine Anhänger bekommen nicht genug. In den Foren der Websites fordern Besucher immer neue, blutigere Clips. «Den habt ihr zu schnell geschnitten», steht da. Und: «Scheich Abu Mussab, wann kommt der nächste?»

«Die Entwicklung überrollt uns», sagt Terrorexperte Kohlmann. «Unternehmen können wir wenig. Eine Site sperren? Am nächsten Tag tauchen zwei neue auf, unter neuer Adresse.» Unter Sarkawis Leuten gibt es solche, die sich um die Webseiten kümmern. Wenn eine ihrer Seiten blockiert ist, schicken sie eine Nachricht mit einer Alternative, wo man die gleichen Inhalte findet, mit dem gleichen Usernamen und dem gleichen Passwort meldet man sich dort an. Und wenn sich ein Problem beim Herunterladen eines Videofilmes ergibt, fragt man einen Spezialisten, der sich «Terrorist 007» nennt. Er weist einem eine andere Website zu. Über die Identität von «Terrorist 007» ist nichts bekannt ? ausser dass er perfekt Englisch spricht. Und durchs Web spaziert, als sei es sein eigener Garten. Einmal hackte er sich in ein File-Directory auf der Website des Bundesstaates Arkansas ein, die er kurzerhand für seine Zwecke missbrauchte und auf der er eine Reihe Köpfungsvideos deponierte ? für alle zugänglich, bereit zum Herunterladen.

Das Netz ist keine Einbahnstrasse. Stark frequentiert sind Foren, in denen Ideologie, Strategie und die jüngsten Angriffe diskutiert werden. In Chat-Rooms kommunizieren ganze Gruppen miteinander. Am beliebtesten ist «Paltalk», ein kostenloser Service, der Dutzende von Chat-Rooms rund um die ganze Welt miteinander verbindet. Da vergleichen alte Afghanistan-Veteranen ihre Front-Erlebnisse mit den jüngsten Ereignissen im Irak. Verwandte von arabi- schen Freiwilligen im Irak berichten über die «Martyrien» ihrer Söhne und Neffen. Und britische Islamisten preisen die «cleverness» von Abu Mussab al-Sarqawi.




300 «Bräute» in drei Monaten

Es ist nicht das erste Mal, dass Sarkawi in Europa seine Spuren hinterlässt.

28. Dezember 2001: In der Wohnung von Schadi Abdullah klingelt das Telefon. «Möge Allah euch beschützen», sagt eine Stimme. «Gibt es was Neues?» Abdullah jauchzt vor Freude, als er die Stimme hört.

«So Allah will, haben wir eine Braut aus Marokko gekauft. Sie ist eine sehr gute Braut, ich habe sie selbst gesehen.»

«Aber du darfst sie doch gar nicht sehen», scherzt die Stimme.

«Wie?» Abdullah ist verwirrt.

«Es ist doch nicht erlaubt, dass du sie siehst! Wieso machst du so etwas ? meine Braut anschauen?»

Schadi Abdullah ist Jordanier, ehemaliger Leibwächter von Osama Bin Laden und Asylbewerber in Deutschland. Die Stimme am Telefon, die Abdullah derart in Verzückung bringt, gehört Abu Mussab al-Sarkawi. Das Taliban-Regime ist gefallen. Sarkawi ist auf der Flucht irgendwo im Iran. Fast täglich telefoniert er nach Deutschland. Er spricht in Codes. Die «Braut», die man ihm in Marokko besorgt hat, ist ein Reisepass. Sarkawi braucht noch viele «Bräute» für seine Kämpfer. Die Islamisten in Deutschland liefern: 300 «Bräute» lassen sie innert dreier Monate in einer Fälscherwerkstatt im dänischen Horsholm herstellen.

Doch offenbar geht es um mehr als Reisehilfe für die Terrornomaden. In seinen Telefonaten spricht Sarkawi von «schwarzen Pillen», «russischen Äpfeln», «Honig» und von «kleinen Mädchen». Beim Bundeskriminalamt (BKA) herrscht Nervosität. Seit Monaten schneidet man die Gespräche zwischen Sarkawi und seinen Kollegen in Deutschland mit. Sie gehören der sogenannten Tawhid-Gruppe an. Was mit den Codes gemeint ist, weiss man nicht. Als sich Abdullah nach einem Telefonat auf den Weg nach Berlin macht, steigt die Spannung. Per «Zellenkennung» von Abdullahs Handy eruiert das BKA seinen Standort: die Fasanenstrasse. Dort steht das jüdische Gemeindehaus. Höchste Alarmstufe.

Sarkawi taucht in den folgenden Wochen zeitweise im Nordirak auf, steht aber weiterhin in Kontakt mit seiner deutschen Zelle.

Am 2. April 2002 ruft er wieder bei Abdullah an. «So Allah will, alles ist gut», sagt der. Doch er merkt schnell, dass etwas im Argen liegt. «Es läuft nicht so, wie manche möchten. Wir bestellen Sachen, Obst oder das Gleiche, aber sie verlangen hohe Preise oder halten mich hin.»

«Hör zu, hör zu», herrscht ihn Sarkawi an. «Du sollst dich nicht darum kümmern, ob was teuer ist oder nicht.»

«Wir haben ein paar Sachen erreicht, aber nicht das Stumme. Das haben wir noch nicht, wir benötigen das Stumme, verstehst du. Sie haben mir eins gebracht. Aber das schafft Probleme, ich brauche das andere.»

«Warum bleibst du nicht dabei und nimmst die schwarze Pille?», fragt Sarkawi.

«Wir haben daran gedacht, aber das Medikament, das damit benutzt wird, ich meine Honig, ist nicht vorhanden.»

«Es ist sehr einfach, sehr einfach, sehr einfach.» Sarkawi verliert die Geduld. «Hör zu, hör zu, ihr müsst euch zusammenreissen, ehrlich. In diesen Zeiten, bei Allah.»

«Wir bemühen uns, bei Allah, wir bemühen uns», versichert Abdullah.

Schliesslich fragt Sarkawi, ob Abdullah die Sache nicht allein ausführen wolle. «So Allah will, jetzt verstehe ich.»

«Dies ist eine grosse Chance», sagt Sarkawi, «eine grosse Chance.»

Verwirrung und Sorge beim BKA. Die Vehemenz, mit der Sarkawi offensichtlich die baldige Ausübung einer Aktion fordert, beunruhigt die Beamten. Abgehörten Telefonaten glauben die BKA-Beamten entnehmen zu können, dass etwas für den 23. April 2002 geplant ist. An diesem Tag werden in einer bundesweiten Aktion sieben Personen festgenommen, allen voran Schadi Abdullah.

Abdullah packt aus. Der ehemalige Leibwächter Bin Ladens ist die Quelle, von der Fahnder träumen. Er wird zum Kronzeugen. Die Verhöre legen den Schluss nahe, dass die deutsche Tawhid-Zelle, die ursprünglich für die logistische Unterstützung gedacht war, sich nach und nach in eine operative Terrorgruppe verwandelt hat. Abdullahs Aussagen vermitteln den Fahndern eine Vorstellung von Sarkawis Netzwerk in Europa. In Deutschland reicht es von Wiesbaden nach Berlin, Hamburg und München. Hilfe steht auch in Grossbritannien und Tschechien in Form von einsatzfähigen Terroristen bereit. Die deutsche Gruppe schleust über Handelsgesellschaften oder Nichtregierungsorganisationen Gelder nach Afghanistan, später zu Sarkawi in den Iran.

Die Fäden des Netzes ziehen sich über ganz Europa. In Italien, Spanien, Frankreich, Grossbritannien werden Zellen zerschlagen, die mit Sarkawi in Verbindung stehen. In London verhaftet man eine Schlüsselfigur: Abu Katada, den geistigen Führer von al-Tawhid, von Fahndern oft «Bin Ladens Statthalter in Europa» genannt.

Lange bevor er im Irak Schlagzeilen macht, ist Sarkawi bei den europäischen Ermittlern auf dem Radar. Doch er gibt Rätsel auf, ist «ein schwarzes Pferd», wie sich ein Fahnder ausdrückt. Gerüchte kursieren, Sarkawi habe in seinem Trainingscamp in Herat mit Chemiewaffen laboriert. Unter Europas Geheimdiensten geht die Angst um: Sarkawi könnte der Big Bang gelingen, ein Anschlag mit chemischen Giftstoffen. Im Januar 2003 werden in Spanien, Frankreich und Grossbritannien Dutzende Nordafrikaner verhaftet. Sie sollen Rizin und andere chemi- sche Waffen präpariert haben.

Der damalige US-Aussenminister Colin Powell will es mit Bestimmtheit wissen: «Das Rizin, das jetzt in Europa gefunden wurde, stammt aus dem Irak», behauptet er während seines berüchtigten Auftrittes vor der Uno-Vollversammlung am 5. Februar 2003, bei dem er den Grundstein für die Irak-Invasion legt. «Als unsere Koalition die Taliban vertrieb, half das Netzwerk von Sarkawi, ein weiteres Gift- und Sprengstofflager aufzubauen, und dieses Lager ist im Nordosten Iraks.» Zum «Beweis» lässt Powell im Uno-Plenarsaal Luftaufnahmen vom angeblichen Labor einblenden.

Nach Powells Uno-Auftritt wird Sarkawi in der ganzen Welt bekannt. Er sei das Bindeglied zwischen Saddam Hussein und Osama Bin Laden, behauptet der US-Aussenminister. Viele europäische Geheimdienstler, die die Spuren Sarkawis seit längerem verfolgen, reagieren mit Skepsis. «Diesbezügliche Hinweise konnten nicht festgestellt werden», notiert ein BKA-Beamter in seine Ermittlungsakte. Offiziell sagt dies noch niemand. Plötzlich sieht die Welt in Sarkawi den Meisterterroristen. Wo immer eine Terrorzelle ausgehoben wird, taucht sein Name auf, selbst wenn die angeblichen Verbindungen schleierhaft sind. Als in Madrid am 11. März 2004 Pendlerzüge in die Luft fliegen, stellt der Untersuchungsrichter die These auf: Sarkawi ist der Drahtzieher. Beweise fehlen, die Indizien sind schwach.

Fakten und Fiktionen vermischen sich. Sarkawi wächst zum Mythos. Einmal wird er im georgischen Pankisital gesehen, dann soll er in Europa unterwegs sein, in Syrien, Iran und Jordanien. Er soll bereits unter dem Schutz Saddam Husseins im Irak aktiv gewesen sein, in welcher Sache genau, ist niemandem klar. Laut US-Aussenminister Powell hat Sarkawi sogar ein Bein verloren und sich deswegen in einem Spital Saddam Husseins in Bagdad pflegen lassen. Die Welt rätselt. Wie viele Beine hat er nun? «Nicht mehr als drei», scherzt ein Journalist, «und nicht weniger als keins ? vielleicht.»

Wer keinen Einblick in die Geheimdienstdossiers hat, verliert schnell den Überblick. Und selbst den europäischen Ermittlern erscheinen ihre Versuche, dem Netzwerk Sarkawis und seinen chemischen Terrorplänen auf die Spur zu kommen, «wie ein Stochern im Nebel», klagt ein Fahnder.

Fest steht, dass Sarkawi ohne Irak-Invasion niemals zu einem der meistgesuchten Terroristen der Welt aufgestiegen wäre. Möglich gemacht hat es Colin Powell, indem er ihn zum leuchtendsten Stern am Terroristen-Firmament stilisierte. Und der Krieg sowie das amerikanische Missmanagement im befreiten Irak gaben Sarkawi das Terrain, auf dem er sich nun profiliert.

In Europa reibt man sich heute die Augen. Zwei Jahre nach der Invasion im Irak erweist sich der Giftalarm als Fehlalarm. In Spanien sind alle Verdächtigen auf freien Fuss gesetzt. Die angeblichen Giftstoffe waren Bleichungs- und Waschmittel. In Frankreich wurde die Anklage fallen gelassen, als die Rizinproben sich als Weizenkeime herausstellten. Und in London stellt das zuständige Gericht klar, dass die verdächtigen Stoffe manipuliert worden waren. Die Regierung entschuldigte sich und begründete die Panne mit einem Irrtum eines Angestellten.

Die Gefahr von Sarkawi indessen ist längst nicht gebannt. Der Irak-Krieg hat sie erst recht entfacht. Im Sommer 2003 beobachten jordanische wie westliche Geheimdienste, wie ? vor allem aus und über Europa ? Sarkawis Anhänger via Teheran in den Irak reisen, um dort im heiligen Krieg zu kämpfen. Keine Einbahnstrasse, wie sich bald herausstellt. Aus dem Irak ziehen Kämpfer zurück nach Europa.

«Der Aufstand im Irak kreiert einen neuen Typus islamistischer Militanter», kommt eine vertrauliche CIA-Studie zum Schluss, die im vergangenen Juni durch eine Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangte. Ihre Fähigkeiten seien gefährlicher als diejenigen der Afghanistan-Veteranen der achtziger Jahre. «Die Dschihadisten, die überleben, werden den Irak als besttrainierte Grossstadt-Krieger verlassen», sagt CIA-Chef Porter Goss. «Die Gefahr wird wachsen, sobald diese Krieger den Irak verlassen und in ihre arabischen Heimatländer oder nach Europa zurückkehren, wo viele von ihnen im Exil wohnten oder als Kinder von Emigranten aufwuchsen.»

Einmal mehr versetzt Sarkawi die europäischen Sicherheitsdienste in Nervosität. Minutiös versuchen sie herauszufinden, wie viele Muslime sich von der Propaganda anstecken liessen, wer von ihnen im Irak gefallen ist und wer sich wieder auf dem Weg zurück nach Europa befindet. In Frankreich hat man etwa zwanzig Irak-Reisende gezählt, die Hälfte von ihnen ist wahrscheinlich im Kampf umgekommen. Europaweit sollen rund zweihundert junge Muslime in den Irak aufgebrochen sein. Nach jüngsten Angaben von Terrorexperten hat Sarkawi in Grossbritannien ein Rekrutierungsnetzwerk gegründet. Die neue Gruppe ? Ansar al-Fath (Partisanen des Sieges) ? biete ausländischen Freiwilligen logistische Hilfe und rekrutiere neue Mitglieder über das Internet, sagen Sicherheitsexperten. Siebzig Männer aus Grossbritannien seien in den letzten zwei Jahren in den Dschihad gezogen, einige von ihnen «durchtrainiert» wieder zurückgekehrt. Keine riesige Zahl. Doch es reicht, wenn einer von ihnen eine lokale Zelle aufbaut und sein im Irak erlerntes Handwerk auf europäischem Boden umsetzt.

Und was sind Sarkawis eigene Pläne? Wird er seinen Terror aus dem Irak hinaustragen, nach Jordanien, Syrien, Israel? Er lässt sich selten in die Karten blicken. Seine Pläne müssen an seinen Taten abgelesen werden: Am 29. Februar 2004 stirbt Umm Sayel, seine Mutter. «Sei geduldig, liebe Mutter», hatte er ihr vor Jahren aus dem Gefängnis geschrieben. «Wenn wir uns in dieser Welt nicht mehr sehen, dann im Himmel.»

Wochen sind seit ihrer Beerdigung vergangen. Eine dunkle Gestalt geht durch die Gassen. In eine Koranschule. Sie bleibt eine Nacht. Zwei. Drei. Doch Abu Mussab al-Sarkawi geht nicht auf den Friedhof. Seine Frau und seine vier Kinder in Sarka besucht er nicht. Er ist allein. Noch einmal zu Hause, in seiner Stadt. Dann kehrt er zurück an die Front. Einen Monat später ist seine Familie verschwunden. Im Irak, heisst es.

In einem Brief an Bin Laden schreibt er: «Wenn der Dschihad im Irak scheitert, wird das Kalifat nie entstehen. Dann wird die Nation erwürgt, unser Volk entwürdigt, und Sanktionen werden auferlegt für immer.»

Alles deutet darauf hin, dass er im Irak die Entscheidung sucht. Gemäss seinen zahlreichen Statements wird er alles daran setzen, die Schiiten in einen Bürgerkrieg zu drängen. Einen von Schiiten dominierten Staat wird er nach Kräften sabotieren. Doch selbst wenn er seine Ziele erreichen sollte und den Irak ins Chaos stösst, wird er sein Fernziel, die Errichtung eines Kalifats, kaum erreichen. Dieses ist eine Erfindung der Sunniten für Sunniten. Im Irak, wo die Schiiten sechzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, fehlt allein schon die demografische Masse, die Sarkawis Ziel unterstützen könnte. Da bleibt für seinen Traum nicht viel übrig. Ein Emirat in Teilen des sunnitischen Gürtels vielleicht, mehr wird er kaum erreichen.

Sein wichtigstes Ziel hat Sarkawi bereits erreicht: den Sarkawi-Effekt. Er wirkt sich im Kampf und auf religiösem Gebiet aus. Viele radikale Islamisten richten sich nach seinem Tun und Treiben im Irak aus. Für die Kämpfer ist er ein vorbildlicher Anführer. Enthauptungen in Afghanistan und Thailand sind eindeutig auf dieses «Vorbild» zurückzuführen. Für die radikalen Glaubensführer ist er derjenige, der den Geist des Dschihad weiterträgt, der bis dahin von Bin Laden verkörpert wurde.

Sarkawi ist das Gegenteil von Bin Laden. Kein Sohn aus feinem Hause. Ungebildet. Rau. Impulsiv. Dennoch könnte er dem saudischen Terrorfürsten innert kurzer Zeit den Rang ablaufen. Mit Gewalt, aber auch mit seinem scharfen Instinkt für Propaganda.

Wird er Nachfolger Bin Ladens? Im Moment scheinen sich beide zu ergänzen. Bin Laden ist der geistige Führer und sorgt für die globale Strategie, Sarkawi ist der General an der Front. Doch der unbeugsame Sarkawi könnte es auf einen Machtkampf ankommen lassen. Sarkawi weiss die Geschichte auf seiner Seite. Die Dynamik der Revolution begünstigt immer die radikalsten Fraktionen ? die Jakobiner, nicht die Girondisten; die Bolschewiken, nicht die Menschewiken. In diesem Sinne könnte Sarkawi der Mann der Zukunft sein.

Die Dokumente
<http://www.globalterroralert.com/heroesoffallujah-web.wmv>«Die Helden von Falludscha», Erstes Video einer Sarkawi-Gruppe, das auf dem Internet erschienen ist, April 2004. Quelle: www.globalterroralert.com


<http://switch5.castup.net/frames/20041020_MemriTV_Popup/video_480x360.asp?ClipMediaID=81888&ak=null>Sout al-Khilafa, Mitte September 2005, Online-Wochenschau der al-Qaida, erste Ausgabe, Mitte September 2005 Quelle: www.memritv.org.

«Die Invasion der Immigranten und ihrer Gefolgschaft»: <http://www.weltwoche.ch/sarkawi/resistance2.avi>Sarkawi-Anschlag auf US-Truppenbasis in Ramadi
(avi-Fomrat, 351 MB, April 2004, Quelle: alfafe-net - eine von Sarkawis Websites