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[infowar.de] Chefredakteur von Al Dschasira im Interview
http://www.tagesspiegel.de/sonntag/archiv/03.12.2006/2928979.asp
(03.12.2006)
„Sie klingen verbittert.“ „Ja, das bin ich.“
Niemand sonst bekommt so oft Post von Osama bin Laden wie Ahmed Sheikh.
Denn sein Sender Al Dschasira erreicht die ganze arabische Welt.
Ahmed Sheikh, 57, wurde 2003 Chefredakteur bei Al Dschasira. Dieser
Nachrichtensender ist im Emirat Katar ansässig und feiert diesen Monat
sein zehnjähriges Bestehen. Der gebürtige Palästinenser Sheikh studierte
englische Literatur in Jordanien, als Journalist arbeitete er unter
anderem für die BBC.
Interview: Pierre Heumann
Herr Sheikh, Sie sind einer der wichtigsten Meinungsmacher im arabischen
Raum. Wie bezeichnen Sie Selbstmordattentäter?
Für das Geschehen in Palästina verwenden wir den Ausdruck
Selbstmordattentat nie.
Wie nennen Sie es?
Wörtlich übersetzt sprechen wir von Kommandoangriffen. In unserer Kultur
ist es eben nicht Selbstmord.
Sondern eine Aktion, die lobenswert ist?
Wenn das Land besetzt ist und das Volk vom Feind getötet wird, muss jeder
zur Tat schreiten, sogar wenn er sich dabei opfert.
Auch wenn er unschuldige Zivilisten umbringt?
Das Problem liegt nicht bei den Palästinensern, sondern bei den Israelis.
Sie weichen aus.
Durchaus nicht. Wenn die israelische Armee angreift, tötet sie Zivilisten.
Eine Armee sollte in der Lage sein, zwischen militärischen und zivilen
Zielen zu unterscheiden. Aber wie viele unschuldige Menschen hat sie in
Beit Hanoun umgebracht? Und dann begründet sie dies damit, dass es sich
bei der Granate um eine Art Irrläufer gehandelt habe. Doch wer glaubt ihr das?
Es gibt einen Unterschied zwischen „palästinensischen Kommandoaktionen“
und israelischen Militäroperationen. Bei den einen sollen möglichst viele
Zivilisten umgebracht werden, bei den anderen geht es ausschließlich um
militärische Ziele.
Nun wirklich! Wenn den Israelis so ein Fehler ein oder zwei Mal im Jahr
unterliefe. Aber sie passieren jede Woche. Dafür gibt es drei Erklärungen:
Entweder ist die militärische Ausrüstung nicht auf dem neusten Stand, oder
die Soldaten sind schlecht ausgebildet und benutzen die Waffen
unsachgemäß, oder sie tun es mit Absicht. Nun wissen wir, dass die
Israelis das Beste aus dem amerikanischen Waffenarsenal erhalten, dass die
Soldaten gut ausgebildet sind. Und das lässt dann eben nur einen Schluss
zu: Dass sie es mit Absicht tun.
Sie stammen aus Nablus, einer Stadt, die 1967 von Israel besetzt wurde.
Spricht nun der Palästinenser in Ihnen, der Israel als Feind betrachtet,
oder der Journalist, der sich um die Wahrheit bemüht?
Der Journalist.
Ihr persönlicher Hintergrund hat also keinen Einfluss auf Ihre Arbeit?
Wenn ich im Nachrichtenraum bin, vergesse ich meinen persönlichen
Hintergrund. Die Newsstory ist für mich heilig. Man darf sie nicht
verändern, muss sie so ausstrahlen, wie sie ist. Unverfälscht.
Wie haben Sie denn über Beit Hanoun berichtet, wo 19 Palästinenser getötet
wurden?
Wir interviewten Leute vor Ort, sprachen sogar mit den Israelis, wollten
von ihnen wissen, ob sie das mit Absicht getan hatten, was sie natürlich
verneinten. Wir mussten sie das fragen. Als professionelle Journalisten
können wir es uns nicht leisten, bloß mit Palästinensern zu sprechen.
Zeigten Sie alle Bilder aus Beit Hanoun oder zensierten Sie besonders
blutig-grausame Szenen?
Was zu brutal ist, zeigen wir nicht aus der Nähe. Wir wollen das Leben der
Zuschauer nicht in einen Albtraum verwandeln.
Bei Ihrer Berichterstattung über den Irak gelten offenbar andere Maßstäbe.
Wiederholt haben Sie gezeigt, wie westliche Geiseln geköpft wurden. In den
USA wirft man Ihnen vor, die irakische Bevölkerung regelrecht gegen die
US-Truppen aufzuhetzen.
Amerikaner besetzen ein Land, und man muss nicht nur damit rechnen,
sondern auch akzeptieren, dass sich die Menschen dort wehren. Sehen Sie:
Am Ende musste US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zurücktreten. Denn
jeder im Weißen Haus und in Washington begriff, dass dieser Mann eine
Katastrophe war. Eigentlich bedauere ich seinen Rücktritt. Er war mit
seinen Ausfällen gegen uns ein sehr guter Promoter von Al Dschasira. Doch
im Ernst: Kann man die amerikanische Politik und die amerikanischen Taten
im Irak verteidigen, kann man sie rechtfertigen? Meine Meinung ist klar.
Die Amerikaner sollten uns nicht länger vorwerfen, dass wir mit unseren
Berichten das Leben ihrer Soldaten gefährden.
Strahlen Sie deshalb immer wieder die Bänder von Osama bin Laden aus, die
Ihnen zugespielt werden?
Sie sind Journalist und müssten eigentlich wissen: Wenn Ihnen jemand ein
Band oder ein Interview mit bin Laden anbietet, zögert man nicht, die
Offerte anzunehmen, sogar wenn es Sie nach Guantánamo führen würde.
Es fällt freilich auf, dass Al Dschasira ein Quasi-Monopol auf
Informationen aus dem Dunstkreis bin Ladens hat.
In den vergangenen fünf oder sechs Jahren haben wir vielleicht zwei oder
drei Bänder pro Jahr erhalten. Das sind News, die wir dem Publikum nicht
vorenthalten dürfen. Wir sind im Übrigen nicht die Einzigen, die
gelegentlich Post von bin Laden erhalten. Früher war auch CNN auf dem
Verteiler, zudem erhalten Nachrichtenagenturen wie AP oder der
Fernsehsender Al Arabia Botschaften von Al Qaida. Richtig ist allerdings,
dass wir solche Bänder öfter erhalten als die anderen. Wir stellen die
Informationen dann in einen nachrichtlichen Zusammenhang. Wenn bin Laden
zum Beispiel einen Waffenstillstand von 90 Tagen anbietet oder wenn er
zugibt, für die Bomben in Madrid verantwortlich zu sein, müssen wir doch
darüber berichten. Das sind News.
Auch im arabischen Raum haben Sie nicht nur Freunde.
Wir wollen keine Regimes stürzen. In unserem Ehrenkodex ist aber
festgehalten, dass wir das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung
hochhalten. Wir verstehen uns als pluralistisches Forum, das der
Wahrheitssuche verpflichtet ist. Und wir decken immer wieder
Korruptionsfälle auf, wie kürzlich in Ägypten.
Sie nehmen nicht nur das ägyptische Regime ins Visier, sondern praktisch
alle arabischen Regierungen der Region. Bei wem stehen Sie denn derzeit
auf der Schwarzen Liste?
Saudi-Arabien hat uns nie erlaubt, dort zu arbeiten. Nur einmal durften
wir über den Hadsch berichten, und ich ging hin, um einen Film zu drehen.
Tunesien und Algerien haben uns gestoppt, der Irak hat uns vorübergehend
ausgesperrt, zeitweise waren unsere Reporter auch in Syrien, Jordanien
oder Kuwait nicht zugelassen. Probleme haben wir auch im Sudan, weil wir
über die Scheußlichkeiten in Darfur berichten, wo unschuldige Menschen
getötet werden. Auch die Iraner schlossen eine Zeit unsere Büros, nachdem
wir Reportagen über die unterdrückte arabische Minderheit im Iran
ausgestrahlt hatten.
Da das Werbevolumen auf Al Dschasira bescheiden ist, fragt man sich schon,
wer Ihnen den kostspieligen Nachrichtensender finanziert.
Die Regierung Katars bezahlt 75 Prozent unserer Ausgaben, die restlichen
25 Prozent spielen wir mit kommerziellen Aktivitäten selber ein. Aber wir
nehmen von der Regierung Katars keine Anweisungen entgegen.
Es wird Ihnen vorgeworfen, dass Ihre Unabhängigkeit dort aufhört, wo die
Kritik an der Herrscherfamilie Katars, die Sie finanziert, beginnen sollte.
Ach was! Wer das sagt, verfolgt unsere Sendungen nicht sehr aufmerksam.
Wir kritisieren die katarische Regierung sehr wohl.
Zum Beispiel?
Wir kritisieren die starke Präsenz der amerikanischen Luftwaffe in diesem
Land. Wir kritisieren auch, dass die Israelis hier in Doha eine
diplomatische Vertretung haben dürfen. Im Übrigen muss ich Sie aber schon
fragen: Was passiert denn in Doha, das berichtenswert wäre? Sie können
Katar unmöglich mit Saudi-Arabien und dessen sozialer Unruhe vergleichen,
mit dem Iran oder dem Irak. In Katar passiert nichts. Unsere Lage bei Al
Dschasira lässt sich mit derjenigen der BBC vergleichen. Auch dieser
angesehene Sender wird von der Regierung finanziert. Wenn die BBC
unabhängig ist – und niemand zweifelt daran –, weshalb traut man das
Gleiche nicht auch uns zu?
Einspruch: Die BBC finanziert sich aus den Gebühren ihrer Zuschauer. Herr
Sheikh, bisher sendete Al Dschasira auf Arabisch. Seit Mitte November
gehört auch ein englischsprachiger Nachrichtensender zu Ihrer Gruppe. Was
versprechen Sie sich davon?
Der Einfluss des arabischen Senders in der arabischen Welt ist enorm.
Gehen Sie nach Amman oder Jerusalem oder Kairo oder Casablanca: Im
arabischen Raum sind wir mit rund 50 Millionen Zuschauern die wichtigste
Informationsquelle und der wichtigste Meinungsmacher. In Palästina zum
Beispiel werden wir von 76 Prozent der Bevölkerung gesehen. Mit dem
englischsprachigen Sender hoffen wir einen Beitrag zum gegenseitigen
Verständnis der Kulturen zu leisten. Vor allem in Krisenzeiten ist es
wichtig, Missverständnisse auszuräumen, um Konflikte zu entschärfen.
Oft heizen Sie Konflikte freilich an – bei den Mohammed-Karikaturen zum
Beispiel.
Unsinn. Wir haben die Cartoons ja nie gezeigt. Nicht wir, sondern eine
Nachrichtenagentur berichtete als Erste über die Cartoon-News. Das war
eine gute Story, eine sehr wichtige Meldung. Sie hatte Folgen: Es kam zu
Demonstrationen, es wurde darüber debattiert, und wir mussten natürlich
über all das berichten, und zwar möglichst unparteiisch. Es liegt ja nicht
in der Verantwortung einer Nachrichtenorganisation zu entscheiden, ein
bestimmtes Thema hochzuspielen oder abzukühlen. Das ist nicht unser Auftrag.
Daran hielten Sie sich auch bei der Berichterstattung über die Papst-Rede?
Als der Papst in aller Öffentlichkeit behauptete, der Islam und der
Prophet Mohammed benützten bloß das Schwert, als er Muslimen vorwarf,
Ignoranten zu sein, da begriff unser Redakteur zunächst die Bedeutung
dieses Textes nicht so recht. Bis ich ihm erklärte, dass es sich dabei um
eine sehr wichtige Rede handle, dass er sie deshalb als Schlagzeile
mitnehmen müsse.
Der Papst hat im Rahmen einer akademischen Feier einen Gelehrten aus dem
Mittelalter zitiert.
Mit Zitaten versucht man in der Regel, seinen eigenen Standpunkt zu
untermauern.
Herr Sheikh, als junger Mann haben Sie Ihre Heimat verlassen. Wie hat Sie
das geformt?
Wäre ich in Nablus geblieben, hätte ich mich wohl anders entwickelt. Aber
tief in dir steckt etwas, das sich nie verändert, und das ist der prägende
Einfluss der Kindheit. Wir bleiben immer Kinder. Falls das Kind in dir
abstirbt, dann ist es zu Ende. Es ist deshalb ein Segen für die
Menschheit, wenn das Kind in dir erhalten bleibt.
Woran erinnern Sie sich zum Beispiel?
Ich weiß noch gut, wie die Israelis im Juni 1967 in unsere Stadt
einmarschierten. Wir erwarteten sie von Westen, aber sie griffen von Osten
an. Weil ich studieren wollte, ging ich dann nach Jordanien. Wäre ich in
Palästina geblieben, würde ich jeden Tag das Töten sehen, müsste
beobachten, wie palästinensisches Land konfisziert wird, müsste die
täglichen Erniedrigungen der Besatzungsmacht über mich ergehen lassen,
aber mir auch ansehen, wie Israelis durch sogenannte Selbstmordattentäter
umgebracht werden.
Wie sehen Sie die Zukunft dieser Region, in der Nachrichten über Kriege,
Diktaturen und Elend dominieren?
Die Zukunft hier ist sehr trostlos.
Können Sie das bitte erläutern?
Ich rate meinem 30-jährigen Sohn, der in Jordanien lebt, die Region zu
verlassen. Gerade heute Morgen habe ich mit ihm darüber gesprochen. Er hat
einen Sohn, und wir unterhielten uns über dessen Erziehung. Ich möchte,
dass mein Enkel auf eine dreisprachige private Schule geht – die
staatlichen sind schlecht. Er soll Englisch, Deutsch, Französisch lernen,
auch Spanisch wäre sehr wichtig. Doch diese Privatschulen sind sehr teuer.
Deshalb empfehle ich meinem Sohn, meinem Enkel zuliebe in den Westen
auszuwandern.
Sie klingen verbittert.
Ja, das bin ich.
Gegen wen richtet sich Ihr Zorn?
Sorgen macht mir nicht nur das Fehlen der Demokratie in dieser Region. Ich
begreife nicht, weshalb wir uns nicht so schnell und dynamisch entwickeln
wie der Rest der Welt. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und
sagen: Genug ist genug! Wenn ein Präsident wie in Ägypten während 25
Jahren an der Macht ist und nicht in der Lage ist, Reformen durchzuführen,
haben wir ein Problem. Der Mann muss sich verändern oder er muss abgelöst
werden. Doch die Gesellschaft ist nicht dynamisch genug, um diesen Wechsel
friedlich und konstruktiv herbeizuführen.
Woran liegt das?
In vielen arabischen Staaten verschwindet die Mittelklasse, die Reichen
werden reicher und die Armen noch ärmer. Sehen Sie sich Schulen in
Jordanien, Ägypten oder Marokko an: Dort sitzen bis zu 70 junge Menschen
zusammengepfercht in einem Klassenzimmer. Wie kann ein Lehrer da seinen
Job tun? Auch die staatlichen Spitäler sind bei uns in einem
hoffnungslosen Zustand. Dies sind bloß Beispiele für die Lage bei uns im
Nahen Osten.
Wer ist dafür verantwortlich?
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer der wichtigsten Gründe.
Der Tag, an dem Israel gegründet wurde, legte das Fundament für unsere
Probleme. Der Westen sollte das endlich verstehen. Es wäre viel ruhiger,
wenn die Palästinenser zu ihrem Recht kämen.
Wollen Sie damit sagen, dass es ohne Israel plötzlich Demokratie in
Ägypten gäbe, dass die Erziehung in Marokko besser wäre, dass die
staatlichen Kliniken in Jordanien effizienter wären?
Ich glaube schon.
Was haben diese Probleme mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun?
Die palästinensische Sache ist zentral für das arabische Denken.
Geht es am Ende etwa um Selbstwertgefühle?
Genau. Es geht darum, dass wir stets gegen Israel verlieren. Die Leute im
Nahen Osten wurmt es, dass ein so kleines Land wie Israel mit rund sieben
Millionen Einwohnern die arabische Nation mit 350 Millionen Bürgern
besiegen kann. Das schadet unserem kollektiven Ego. Das palästinensische
Problem ist in den Genen eines jeden Arabers. Und das Problem des Westens
ist es, dass er dies nicht versteht.
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