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[infowar.de] NYT kritisiert eigene Irak-Berichterstattung



Infowar.de, http://userpage.fu-berlin.de/~bendrath/liste.html
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http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/17521/1.html 

Seltene Selbstanzeige

Thorsten Stegemann   27.05.2004 

Die "New York Times" kritisiert ihre eigene Berichterstattung im Umfeld 
des Irak-Krieges 

Als die Leser der  New York Times [1] am Mittwoch ihre Zeitung 
aufschlugen, mag der eine oder andere seinen Augen nicht getraut haben. 
Denn der Leitartikel mit der unscheinbaren Überschrift  The Times and 
Iraq [2] enthielt Bekenntnisse seltener Art. Es sei an der Zeit, so 
ließ das Blatt verlauten, nach Hunderten von Artikeln, die im Umkreis 
des Irak-Krieges veröffentlicht wurden, nun die eigene 
Berichterstattung kritisch und unvoreingenommen zu überprüfen. 

Das Ergebnis förderte zunächst wenig Überraschendes zutage, denn die 
Selbstanalyse fand natürlich "eine enorme Menge journalistischer 
Beiträge, auf die wir stolz sind." Doch es gab offensichtlich auch 
andere: 

 Wir sind aber auch auf Recherchen gestoßen, die nicht so streng 
durchgeführt wurden, wie dies hätte sein sollen. In manchen Fällen 
wurden Informationen, die damals kontrovers erschienen, und heute 
fragwürdig sind, nicht ausreichend qualifiziert und ohne weitere 
Recherche übernommen. Rückblickend wünschten wir, das wir manche 
Behauptungen aggressiver überprüft hätten, wenn neue Beweise 
auftauchten oder ausblieben.   

Die "New York Times" bedauert insbesondere, sich auf irakische 
Informanten, Regierungsgegner und Exilanten verlassen zu haben, deren 
Glaubwürdigkeit in den letzten Tagen und Wochen nachhaltig erschüttert 
worden sei. Prominentestes Beispiel ist der mittlerweile ins 
Spionagezwielicht geratene Ahmad Tschalabi, der Vorsitzende des 
Irakischen Nationalkongresses, der die Zeitung seit 1991 mit 
Informationen aus Exilkreisen versorgt habe und dann zu einem Favoriten 
der "Hard-Liner" innerhalb der Bush-Administration geworden sei. Seit 
letzter Woche stehe Tschalabi nun nicht mehr auf der Gehaltliste (  Das 
Ende des Dunkelmeisters [3]). 

Der "Times" geht es gleichwohl nicht so sehr um einzelne Personen. Die 
Selbstanzeige gilt eher den diffusen Bedrohungsszenarien, die über 
Wochen und Monate ohne nachweisbare Grundlage entwickelt wurden. Ende 
2001 zitierte die Zeitung einen Ingenieur, der höchstpersönlich in 
geheimen Anlagen zur Herstellung biologischer, chemischer und nuklearer 
Waffen gearbeitet haben wollte. Im September 2002 suggerierte ein 
Artikel, dass Saddam Hussein verstärkte Anstrengungen unternehme, um in 
den Besitz einer Atombombe zu kommen, und noch im April 2003 
verbreitete die "Times" die Behauptung eines irakischen 
Wissenschaftlers, chemische und biologische Waffen seien erst kurz vor 
Kriegsbeginn zerstört worden, der Irak habe Waffen nach Syrien 
transportiert und arbeite überdies noch mit al-Qaida zusammen. An 
dieser höchst zweifelhaften journalistischen Praxis, die in Zukunft 
übrigens aufgegeben werden soll, seien nicht nur Informanten und 
Reporter vor Ort, sondern auch die heimischen Redakteure beteiligt 
gewesen, die - anstatt skeptisch auf Gegenprüfung und weitere 
Recherchen zu drängen - vielleicht zu begierig waren, "scoops" in ihre 
Rubrik zu bringen. 

Noch interessanter als der Leitartikel selbst ist freilich die Frage 
nach den Gründen seiner Entstehung und Veröffentlichung. Der "New York 
Times", die ohnehin nicht als übertrieben Bush-freundlich gilt, wird 
das freimütige Bekenntnis kaum schaden, zumal die meisten Artikel, die 
der unsauberen Recherche bezichtigt werden, in die Amtszeit des 
mittlerweile zurückgetretenen Chefredakteurs Howell Raines fallen. Aber 
könnte die Selbstkritik - nicht gerade ein häufiges Phänomen in den 
Medien - ein landesweites Umdenken initiieren, das die nach dem 11. 
September um die Bush-Regierung aufgebaute Medienfront endgültig 
zusammenstürzen lässt? 

Spiegel Online  spricht [4] lediglich von einem "bemerkenswerten 
Leitartikel", was in etwa der Formulierung  unusual critique [5] der 
San Jose Mercury News entspricht oder allenfalls  an extraordinary mea 
culpa [6] darstellt, wie der Guardian vermutet. Die FAZ geht in einer 
 Stellungnahme [7] davon aus, dass der Vorstoß der "Times" nur interne 
Folgen zeitigen wird: 

 Schwerwiegender wäre es, entschlösse sich ein Bush-freundliches Medium 
wie der Nachrichtenkanal 'Fox News' dazu, dem Beispiel der Zeitung zu 
folgen; das aber ist kaum zu erwarten. Auswirken wird sich die 
schonungslose Selbstkritik der ´Times´ schon eher auf die Zeitung 
selbst. Deren Mitarbeiter dürften sich nun noch stärker ins Zeug legen, 
kein falsches Wort zu schreiben, als vorher. Wer damit rechnen muß, 
irgendwann von dem eigenen Arbeitgeber solcherart an den Pranger 
gestellt zu werden, der wird über jeden Satz sicher dreimal nachdenken. 
  

Der Sender al-Dschasira  sieht [8] das naturgemäß ein wenig anders. Der 
Artikel des arabischen Nachrichtensenders gibt sich insgesamt 
zurückhaltend, beginnt allerdings mit der aufwendigen Überschrift "US 
paper apologises for false Iraq reports" und notiert am Ende: "The New 
York Times is the US' third largest circulation newspaper behind USA 
Today and the Wall Street Journal." Wohingegen bei Fox News lediglich 
die  AP-Meldung [9] zu lesen ist, die in ganz Amerika verbreitet und 
von vielen Presseorganen kommentarlos übernommen wird. 

Insgesamt nehmen die Print- und Onlinemedien die Medienschelte aus den 
eigenen Reihen überraschend gelassen auf. In Deutschland gab sich am 
Mittwochabend kaum jemand so  angriffslustig [10] wie "Die Welt", in 
der Uwe Schmitt einigen Kolleginnen und Kollegen aus den USA und 
Großbritannien folgte und postwendend behauptete, dass die plötzliche 
Distanz zu Ahmad Tschalabi einzig und allein dem Zweck diene, "ihre 
Reporterin Judith Miller aus der Schusslinie zu nehmen, die offenkundig 
bis vor kurzem die Verbindungsoffizierin war. Die allseits um ihre 
Kontakte beneidete Autorin eines Bestsellers über 
Massenvernichtungswaffen mehrte vor und während des Irak-Kriegs ihre 
Umsätze als Stammexpertin bei CNN. Unbestreitbar ist, dass die meisten 
inkriminierten Artikel von ihr stammen." 

Allerdings hatte Schmitt auch eine gute Erklärung für den erstaunlichen 
Umstand, dass die Selbstanklage der "New York Times" kein 
publizistisches Erdbeben auslöste: 

 Es wird in der Branche, wo der hochgestimmte, bisweilen herablassende 
Ton der 'Times'-Leitartikel Anstoß erregt, klammheimliche Freude geben. 
Kaum öffentlich. Keiner lebt außerhalb des Glashauses.   

Trotzdem kann offenbar auch jemand, der selbst im Glashaus sitzt, 
gelegentlich mit Steinen werfen. 

Links 

[1] http://www.nytimes.com
[2] 
http://www.nytimes.com/2004/05/26/international/middleeast/26FTE_NOTE.ht
ml
[3] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/irak/17478/1.html
[4] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,301518,00.html
[5] http://www.mercurynews.com/mld/mercurynews/news/world/8761497.htm?1c
[6] http://www.guardian.co.uk/Iraq/Story/0,2763,1225150,00.html
[7] 
http://www.faz.net/s/RubF7538E273FAA4006925CC36BB8AFE338/Doc~EE2FFFDA6C6
8D43B69F6F934DE5F77E4D~ATpl~Ecommon~Scontent.html
[8] 
http://english.aljazeera.net/NR/exeres/91E58D84-F119-491F-B1B4-1EE8BAAF2
2CD.htm
[9] http://www.foxnews.com/story/0,2933,120941,00.html
[10] http://www.welt.de/data/2004/05/27/283353.html



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