Suche innerhalb des Archivs / Search the Archive All words Any words

[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

[infowar.de] Weizenbaum-Interview in "Junge Welt" 23.09.06



Junge Welt, Samstag, 23.09.2006

»Kritisches Denken ist das Gegenteil von  Internetsurfen«
Gespräch mit Joseph Weizenbaum.

Über die Anfänge der Computer, den Einfluß des Kalten Krieges auf ihre Weiterentwicklung, die Zukunft der Informatik für den Krieg und notwendige Änderungen im Bildungssystem

* Professor Joseph Weizenbaum (geb. 1923 in Berlin) arbeitete über Jahrzehnte als Hochschullehrer am MIT (Massachusetts Institut of Technology). Seit den 60er Jahren tritt er als Medien- und Computerkritiker hervor. Er war Gründungsmitglied der Computer Scientists for Social Responsibility und ist bis heute Beiratsmitglieder der FIFF (Friedensinitiative der Informatikerinnen und Informatiker für soziale Verantwortung)

Der erste Computer wurde für das Militär entwickelt. Wie würden Sie die Entwicklung der Informatik als Wissenschaft beschreiben?

Der ENIAC in den USA gehörte zu diesen ersten Computern. Er war speziell entwickelt worden, um die Flugbahn von Artilleriegeschossen zu berechnen. Anfang 1946 wurde er in Dienst gestellt. Man könnte sagen, das war der Beginn einer Tradi-tion. Interessant ist, daß Konrad Zuse in Deutschland während der Kriegszeit seinen Computer entwickelte und versuchte, das deutsche Militär dafür zu interessieren. Sie hatten aber kein Interesse. Doch ob die Deutschen den Computer im Krieg gehabt hätten oder nicht - ich glaube, es wäre kein großer Unterschied gewesen.

Die folgende Entwicklung der Computer war allerdings im großen und ganzen von den Bedürfnissen des Militärs und ganz besonders des US-Militärs bestimmt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erwartete ein Teil der Welt, daß die USA der Sowjetunion an die Gurgel geht und es zu einem gigantischen Machtkampf zwischen beiden Supermächten kommt. Denn in den USA herrschte große Angst vor dem Kommunismus, der Antikommunismus dort hatte schon lange vor der Existenz der Sowjetunion pathologische Dimensionen. Die gesamte Arbeiterbewegung wurde von ihren Gegnern als kommunistisch verdammt. Hinzu kam: Der Zweite Weltkrieg war von der Doktrin des Luftkriegs durchdrungen, von Bombardements, und endete in Japan mit dem Abwurf von zwei Atombomben.

Natürlich fürchteten die Amerikaner, daß die Sowjets Atombomben entwickeln würden. Dies alles verlangte eine Verteidigungsstrategie gegen die Möglichkeit, daß die Russen kommen. Das bedeutete z.B. die Errichtung von Frühwarnsystemen im Norden Kanadas und auf Grönland. Die Signale, die diese Geräte aufnahmen, mußten wiederum verarbeitet werden. Dafür waren gewaltige Computer nötig. Auf die Industrie und Wissenschaft der USA wurde daher großer Druck ausgeübt, solche Geräte zu entwickeln, sie schneller zu machen, größere Kapazitäten zu schaffen usw. Das größte Problem, an dem ungeheuer viel gearbeitet werden mußte, war, die Computer zuverlässig zu machen. Ohne die Lösung dieses Problems wäre die gesamte Strategie gescheitert.

Es dauerte nicht lange, bis die Bomberflotte der USA und die der Sowjet-union ihre Propellerflugzeuge ersetzten und zum Düsenantrieb übergingen. Damit gab es erheblich weniger Vorwarnzeit bei einem möglichen Angriff, und das bedeutete noch einmal größeren Druck, die Entwicklung von Computersystemen voranzutreiben. Das war der Hauptmotor, der die gesamte Computerindustrie in den USA antrieb.

Dann kam eine sehr schlimme Entwicklung: Die Interkontinentalrakete. Die Flugzeit von der Sowjetunion bis in die USA verkürzte sich auf etwa 20 Minuten. Einstein hat mal gesagt: Wo es nicht juckt, kratzen wir nicht. Hier war ein großes Jucken. Und es kam noch schlimmer: Die Mehrfachsprengköpfe. Ein derartiges Jucken gab es noch nie.

Eine Kehrseite der Münze oder besser eine Facette am Würfel war aber, daß Maschinen, vor allem aber Flugzeuge und Raketen, selbst Computer an Bord haben mußten. Die mußten leichter gemacht und noch zuverlässiger werden. Es juckte überall.

Kann man sagen, daß die Informatik die Wissenschaft war, die die Rüstungsdynamik am meisten vorangetrieben hat?

Man kann es so sagen. Es gilt aber auch umgekehrt, daß die Rüstungswirtschaft der wirtschaftliche Faktor war, der die Informatik am stärksten vorantrieb. Deswegen sind andere Länder auf diesem Gebiet auch sehr, sehr zurückgeblieben. So gab es z. B. in der DDR und anderswo eine Computerindustrie, aber dieses fast pathologische und panische Jucken und Kratzen, das fehlte.

Man kann fragen: Wäre der Computer entwickelt worden, wenn es nach dem Zweiten Weltkrieg eine vernünftige Welt gegeben hätte. Die Antwort lautet ja, aber auf andere Weise. Ich kann mir vorstellen, daß wir heute z. B. immer noch große Computerzentren hätten, in Fabriken und zu Hause kleinere Computer nutzten, aber vielleicht keine Laptops. Wegen der viel geringeren Finanzierung wäre die Entwicklung erheblich langsamer verlaufen.

Die Sowjetunion mußte diesem Druck folgen, sich dem Wettbewerb stellen. Rußland und die Sowjetunion hatten seit 300 Jahren die besten Mathematiker hervorgebracht, aber denen war die rechte Hand hinterm Rücken gefesselt. Das war eine Konsequenz ihrer gesamten Organisation. Zum Verständnis hilft vielleicht eine Anekdote: Etwa 1978, ich arbeitete damals am Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Boston, erhielten wir Besuch von einer sowjetischen Delegation. Sie erhielt auch die Erlaubnis, eine Computerfabrik in der Nähe zu besuchen. In dieser Delegation war ein russischer Kollege, der anschließend erklärte, es sei wunderbar gewesen, diese Fabrik zu besichtigen, denn er habe zum erstenmal eine Computerfabrik gesehen. Und wer war das? Die besten Mathematiker der Sowjetunion, Computerfachleute. Bei ihnen galt, vielleicht gilt es noch heute: Jeder soll das wissen, was er für seinen Job wissen muß, und nichts anderes. Warum soll also der Chef der Computerwissenschaft eine Fabrik besuchen, warum soll er sehen, was da los ist? Es kann sein, daß sie nicht hinter den Westen zurückgefallen wären, wenn sie mit ihren mathematischen Talenten anders umgegangen wären.

Computerforschung und Computerentwicklung sind heute ein Komplex mit vielen Branchen und Zweigen, anders als zu Beginn. Aber ein riesiger Teil auch der heutigen Forschung, in den USA bestimmt der Hauptteil, ist immer noch vom Militär abhängig.

Welche Anforderungen hat das Militär heute an die Informationstechnologie, Stichwort Informationssicherheit und Informationsterrorismus?

Informationssicherheit ist kein so einfacher Begriff. Militärs wollen stets wissen, welche Pläne der Feind hat, heute nachmittag, morgen und übermorgen. Die in Berlin würden gerne wissen, was Moskau denkt usw.. Das Paradebeispiel stammt aus dem Zweiten Weltkrieg: Churchill las die Befehle Hitlers an Rommel früher als Rommel. Zugleich sollen die eigenen Pläne vor dem Feind verborgen gehalten werden. Das ist eine große Branche und die eine Seite der Münze. Die andere Seite der Münze ist, wir wissen, daß der Feind uns irreführen möchte, müssen also wissen, was überall so gesagt wurde. Das ist zugleich mit dem Versuch verbunden, die Kommunikation des Feindes zu stören, wenn möglich zu zerstören, heute könnte man sagen: Mit Spams zu überschütten.

Noch etwas Generelles zu diesem Thema: Wir haben uns zuerst daran gewöhnt, daß Computer abstürzen und aus nicht vorher bestimmbaren Gründen Daten verlieren. Mittlerweile hat sich die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Computer verbessert. Nun haben wir uns daran gewöhnt, Computer gegen Viren zu schützen, sicherheitskritische Updates zu installieren und Spam in der Mailbox zu erkennen und ungeöffnet zu löschen. Die Erkenntnis bleibt, daß Computersysteme nicht vollständig fehlerfrei sind und anfällig gegen böswillige Manipulationen und Eingriffe.

Dennoch verlassen wir uns auch in sicherheitskritischen Bereichen immer stärker auf das korrekte Funktionieren von Computersystemen. Der Erhalt der Sicherheit, Zuverlässigkeit und Integrität dieser Systeme läßt sich nur mit stetig steigendem Aufwand erreichen, aber nie ganz. Die Lücken in der Sicherheit von IT-Systemen sind offensichtlich und dringlich zu stopfen.

Computer sind im Alltag so leistungsfähig, daß viele Bereiche ohne ihre Hilfe nicht mehr arbeitsfähig wären. Doch nicht überall gibt es auch die Möglichkeit, im Störfall auf »Handbetrieb« zurückzuschalten. Im Gegenteil: Computer sind auch in Katastrophensituationen für Arbeit und Kommunikation so wichtig und so vielseitig verwendbar, daß sie notwendige Mittel für die Hilfe in Extremsituationen sind. Dies zeigte sich in großem Maßstab bei der Tsunami-Katastrophe in Südostasien im Dezember 2004, bei der Überflutungskatastrophe in New Orleans 2005, bei der das zusammengebrochene Kommunika-tionsnetz nur durch ad hoc geknüpfte Computernetze ersetzt wurde, und bei der Hilfe für Opfer des Erdbebens in Kaschmir im Oktober 2005.

Sicherheit und Zuverlässigkeit von Computersystemen ist damit entscheidend für den Alltagsbetrieb und zunehmend auch für den Fall von Katastrophen und im Falle von kritischen Sicherheitslagen wie jüngst in London.

Wenn Sie in die Zukunft der Informatik für den Krieg schauen, was denken Sie?

Das ist eine tiefe Frage, die mit Tiefenpsychologie und Soziologie zu tun hat. Ich will dazu folgendes sagen: Manchmal kommt ein Student zu mir und macht sich Sorgen über das, woran er arbeitet, ob er weitermachen soll, über seine zukünftige Arbeit nach der Universität etc. Ich sage in solchen Fällen: »Bevor du anfängst, an einem Projekt zu arbeiten, versuche dir vorzustellen, was mit deiner Arbeit gemacht wird. Sagen wir, du arbeitest an Computervision, kannst du sicher sein, daß jeder Fortschritt, den du machst, in einer Rakete, einer Cruise Missile eingesetzt wird, die beobachtet, wo sie lang fliegt und das Ziel findet. Ich spreche von ungefähr 30 Jahren. Stell dir vor, da ist das Ziel, du sitzt auf einem Berg und du beobachtest, wie die Missile kommt. Du weißt, daß diese Rakete mit Hilfe deiner Arbeit den Weg durch das Tor in das Gebäude hinein und in den Keller finden wird, wo Munition oder was weiß ich lagert. Das alles wird zerstört mit allem, was sonst noch da ist, ich meine menschliche Leben. Du sitzt auf dem Berg und hast deinen Knopf. Wenn du den Knopf drückst, verläuft alles planmäßig. Wenn du ihn nicht drückst, explodiert es nicht. Drückst du oder drückst du nicht? Wenn die Antwort nein ist, solltest du nicht an diesem Projekt arbeiten. Mehr kann ich dir nicht sagen. Im übrigen sollst du nicht etwas tun, weil Weizenbaum es sagt, sondern du mußt es selbst wissen.«

Die Lehre aus dieser kleinen Geschichte lautet, daß es uns gelungen ist, eine derart astronomische Distanz zwischen dem, was wir tun, und den Konsequenzen unseres Tuns zu legen, daß die Verbindung einfach verlorenging. Konkrete Beispiele sind Bomberpiloten: Sie bombardieren aus einer B 52 aus einer Höhe von 40000 Fuß wie in Vietnam, drücken den Knopf, und diese riesigen Bomben regnen da runter. Und der ist da oben. Er hört die Explosion nicht, er sieht die Explosion nicht, er sieht kein Blut, keine abgerissenen Arme, er ist so weit entfernt, daß es mehr mit Computern zu tun hat als mit Menschen oder irgendeiner Realität.

Auf der anderen Seite: Im amerikanischen Fernsehen habe ich während des Golfkrieges gesehen, wie die US-Luftwaffe auf der Autobahn von Kuweit nach Bagdad alles zusammengeschossen hat. Dann wurde gezeigt, wie ein Pilot in seinem Kampfflugzeug landet und zu dem Fernsehreporter sagte: »Das war das letzte Mal, daß ich so etwas gemacht habe. Die Menschen da unten konnten sich nicht helfen, keiner hat zurückgeschossen.« Ich werde nie vergessen: Er benutzte das Wort »Truthahnschießen«. Später wurde berichtet, daß sich eine ganze Menge dieser Piloten weigerte, weiterzumachen.

Geben Sie den Rat, sich der eigenen Wissenschaft zu verweigern?

Ja, das ist die Antwort. Es war ja kein Appell, aber den Rat habe ich gegeben: Überlege, wozu deine Arbeit in letzter Instanz verwendet werden kann, und wenn du nicht mitmachen kannst, dann mach die Arbeit nicht.

Whistleblowing, d.h. aus Verantwortung nein zu sagen, ist ja zu einem durchaus verbreiteten Anliegen von Wissenschaftlern geworden. Es sind zwar immer Minderheiten, die in diese Richtung denken und handeln, aber sie haben eine große Ausstrahlungskraft und eine überzeugende moralische Autorität.

Aber wenn jemand nein sagen kann, dann haben wir eine andere Diskussion. Ich kann mir z. B. vorstellen, daß er denkt, die Iraker seien die größte Gefahr für die Menschheit, die sein Leben bedrohen und das seiner Kinder, und er würde den Knopf drücken. Dann hätten wir zu klären, ob das stimmt oder nicht.

Ich glaube wirklich, eine Antwort ist die Verweigerung. Selbstverständlich ist das unrealistisch, um das mildeste Wort zu nehmen. Die Informatikgemeinschaft wird nicht aufstehen, um wegzugehen.

Sollte man in der Ausbildung der Studenten etwas ändern?

In Amerika bin ich ein Amerikaner, in Deutschland bin ich ein Jude. Das bedeutet, daß ich offenbar die ganze jüdische Geschichte mitgemacht habe. So wurde ich z. B. zu einem Vortrag ins Hamburger Rathaus zum 40. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz eingeladen. Ich sagte dort, daß die Offiziere der SS in den Vernichtungslagern fast alle die wunderschönen humanistischen Gymnasien und Universitäten Deutschlands absolviert hatten und man fragen kann: Was wurde da einem Mengele gelehrt? Daher fragte ich, was heute in unseren schönen Universitäten gelehrt wird. Was hat höchste Priorität an den Schulen? Meine Antwort lautet: Die wichtigste Aufgabe der Schule ist, den Schülern ihre eigene Sprache beizubringen, so daß sie sich klar und deutlich artikulieren können. Wenn sie das können, können sie auch kritisch lesen und hören. Das kritische Denken, Skepsis, darum geht es. Das aber ist das absolute Gegenteil von Surfen im Internet, von der Einbildung, Google sei die Quelle der Wahrheit usw.

Aber was wird gelehrt? Keine Skepsis, keine Logik. Ohne kritisches Denken und Fragen ist aber jeder leichte Beute für Propaganda und Irreführung und für das Nichtdenken.

Aber unsere Gesellschaft fördert kein kritisches Denken.

Ja, das meine ich. Das bedeutet aber nicht, daß Frau oder Mann es sich nicht trotzdem aneignen können. Dazu bedarf es aber anderer Strukturen und auch eigenen Engagements. Das erworbene Wissen kann dabei sicher hilfreich sein.

Das Gespräch führte Reiner Braun (Projektleiter der Tagung Rüstung und Informatik)

* Im Rahmen des Informatikjahrs 2006 findet am 29. und 30. September in der Humboldt-Universität Berlin, Campus Berlin-Adlershof, eine internationale Konferenz zum Thema "Informatik und Rüstung« statt. Teilnehmer sind u. a. Prof. Dr. Joseph Weizenbaum, Prof. Klaus Brunnstein, Dr. Johann Bizer (stellvertretender Landesbeauftragter für den Datenschutz in Schleswig-Holstein), Dr. Götz Neuneck, Andreas Zumach, Prof. Dr. Hans-Georg Kreowski, Gernot Erler

Ort: Humboldt-Universität, Erwin-Schrödinger-Zentrum Adlershof, Rudower Chaussee 26, 12489 Berlin

Zeit: Freitag, 29. September, 19 bis 21 Uhr; Sonnabend, 30. September, 9.30 bis 18 Uhr. Die Teilnahme ist kostenlos.


---------------------------------------------------------------------
To unsubscribe, e-mail: infowar -
de-unsubscribe -!
- infopeace -
de
For additional commands, e-mail: infowar -
de-help -!
- infopeace -
de